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Als die Uhr dreizehn schlug

Titel: Als die Uhr dreizehn schlug
Autoren: Philippa Pearce
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eigene Hosentasche. Er hätte sich mit verbundenen Augen zurechtgefunden. Wo sollte er zuerst hingehen? Hinüber zu den Eiben.
    Mit einem Satz rannte er los. Seine nackten Füße klatschten auf kalten Stein; er schlug gegen ein hohes metallenes Etwas, dessen Deckel herabfiel und auf dem steinernen Boden laut schepperte. Er schreckte zurück und rannte weiter in Richtung der Eiben, doch nach ein paar Metern krachte er gegen einen Holzzaun, und jetzt wusste er, dass das, was er gerochen hatte, Teerfarbe war und dass dies der mit Teerfarbe gestrichene Zaun des Hinterhofs war, auf dem der Mann mit dem rotbraunen Bart seinen Wagen parkte und die Mieter ihre Mülleimer stehen hatten.
    Er machte kehrt und rannte wie eine Ratte, die von einer Meute Hunde gejagt wird, zurück ins Haus. Einen weiteren Versuch wollte er offenbar nicht unternehmen, denn er schloss die Gartentür nicht hinter sich; ins Bett wollte er offenbar auch nicht, denn mitten im Flur, vor der Standuhr, hielt er inne und schluchzte. Kühl tickte die Standuhr weiter.
    Ein Licht war angegangen, oben im Korridor, und er konnte eine Gestalt die Treppe herunterkommen sehen. Er spürte genau, dass es nicht Hatty sein konnte, und doch rief er sie um Hilfe: »Hatty! Hatty!«
    Überall in dem großen Haus fuhren die Mieter aus dem Schlaf. Toms Ruf, durchdringend wie der Warnruf eines Vogels, drang sogar hoch in die oberste Wohnung und riss Mrs Bartholomew aus dem Traum von ihrer Hochzeit an einem Mittsommertag vor gut sechzig Jahren. Der Ruf schien ihr zu gelten, und Mrs Bartholomew, noch ebenso benommen wie ihre Mieter, machte Licht und schickte sich an, aus dem Bett zu steigen.
    Alan Kitson übersprang die letzten paar Stufen, rannte auf Tom zu und packte ihn an den Armen. Der Junge schluchzte und schlug um sich, als würde er gefangen genommen. Dann spürte der Onkel, wie Toms Körper erlahmte, und jetzt begann er zu weinen, leise zwar, doch als wollte er nie mehr aufhören.
    Onkel Alan trug Tom die Treppe hoch in die Wohnung, wo die Tante schon wartete. Dann ging er wieder hinunter, um die Mieter im Erdgeschoss zu beruhigen. Dann ging er erneut nach oben, um dem anderen Mieter im ersten Stock zu erklären, dass sein Neffe ein Schlafwandler sei. Schließlich stieg er hoch zur Wohnung von Mrs Bartholomew. Er fand die Wohnungstür offen, mit eingehakter Kette. Die alte Frau war bleich und zitterte und war ganz aufgebracht von dem Geschrei. Sie hörte sich seine Erklärung an, doch offenbar glaubte sie ihm nicht und verstand ihn nicht einmal. Sie stellte immer unsinnigere Fragen und wiederholte sie ein ums andere Mal. Schließlich verlor Alan Kitson die Geduld, wünschte ihr barsch Gute Nacht und eilte hinunter in seine Wohnung.
    Tante Gwen hatte Tom wieder ins Bett gesteckt und gab ihm heiße Milch und Aspirin zu trinken. Als sie ihren Mann im Flur hörte, kam sie heraus. »Ich bleibe bei ihm, bis er schläft«, sagte sie leise. »Er sieht so aus, als ob er einen richtigen Schock erlitten hätte. Ich denke, er ist aufgewacht und hat sich plötzlich ganz allein im Dunkeln gefunden und wusste überhaupt nicht, wo er ist – oder jedenfalls nicht, wie er da hingekommen ist.«
    »Sieh dir mal das an«, sagte Onkel Alan und hob ein Paar altmodischer Schlittschuhe mit Stiefeln in die Höhe. »Die hat er bei sich gehabt.«
    Tante Gwen war völlig verdutzt. »Was kann ihn nur geritten haben, selbst beim Schlafwandeln?«
    »Und wo kann er die herhaben, das würde ich gerne wissen«, sagte Onkel Alan und untersuchte die Schlittschuhe neugierig. »Sie sind vor kurzem geölt und poliert worden und doch sehen sie nicht so aus, als ob sie in den letzten fünfzig oder hundert Jahren benutzt worden wären. Ich frage mich …«
    »Du darfst ihn nicht mit Fragen löchern, Alan. Versprich mir das. Er ist zu schwach dafür.«
    »Na schön. Wenn es seine Schlittschuhe sind – und uns gehören sie sicher nicht –, dann pack ich sie morgen, bevor er geht, zu seinen Sachen.«
    Tante Gwen wollte gerade in Toms Schlafzimmer zurückkehren, da fiel ihr ein, was sie so verblüfft hatte. »Als er da unten schrie, klang es hier oben, als ob er jemanden rufen würde.«
    »Meinst du, er hat nach seiner Mutter geschrien oder nach seinem Vater?«
    »Nein. Aber ich hätte schwören können, dass er einen Namen rief.«
    »Das kann nicht sein. Er hat einfach geschrien.«

Die Entschuldigung
    T om war in seinem bisherigen Leben schon einige Male voller Enttäuschung oder Traurigkeit eingeschlafen, und
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