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Als der Meister starb

Als der Meister starb

Titel: Als der Meister starb
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Montague. Ich … dieser verfluchte Nebel macht mich nervös, das ist alles.«
    Er lachte, aber es war ein Laut, der mir einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. »Nein, Robert«, antwortete er. »Das ist nicht alles. Ich … hatte gehofft, England zu erreichen, ehe sie mich finden, aber …«
    Finden? Ich verstand nichts mehr, aber irgendwie fühlte ich, dass seine Worte mehr waren als die Fieberphantasien eines Kranken. Es geht mir oft so – ich weiß nicht, ob es eine besondere Begabung oder nur Zufall ist, aber ich spüre fast immer, ob mein Gegenüber die Wahrheit sagt oder nicht. Vielleicht war das auch der Grund, aus dem ich Montague vom ersten Augenblick an vertraut hatte.
    »Ich verstehe nicht«, sagte ich hilflos. »Wer soll Sie finden, und was hat das mit dem Nebel zu tun?«
    Er sah mich an, schwieg einen Moment und setzte sich dann ganz auf. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich ihn wieder auf das Bett zurückdrücken sollte, dann tat ich das Gegenteil und half ihm.
    »Ich muss … mit Bannermann sprechen«, sagte er. »Gib mir meine Kleider, Junge.«
    »Ich kann ihn holen«, widersprach ich. »Es ist kalt an Deck, und …«
    Montague unterbrach mich mit einem schwachen, aber trotzdem entschiedenen Kopfschütteln. »Ich muss hinauf«, sagte er. »Ich muss … diesen Nebel sehen. Ich brauche Gewissheit.«
    Gewissheit? Ich begriff überhaupt nichts mehr, aber ich versuchte auch nicht mehr, ihn von seinem Entschluss abzubringen, sondern half ihm, das schweißdurchtränkte Nachthemd auszuziehen und seine normalen Kleider anzulegen. Ich erschrak erneut, als ich ihn ohne Hemd sah – Montague war niemals ein kräftiger Mann gewesen, sondern von zarter, beinahe knabenhafter Statur und dem hellen Teint des Großstadtmenschen, der sein Haus nur verlässt, wenn es unumgänglich ist. Aber jetzt glich er einem wandelnden Skelett. Sein Körper war ausgezehrt. Die Rippen stachen wie dünne blanke Knochen durch seine Haut, und seine Oberarme waren so dünn, dass ich sie mit einer Hand hätte umfassen können. Er hatte kaum die Kraft, Hemd und Hose anzulegen. Bei Gamaschen und Schuhen musste ich ihm helfen, weil ihm schwindelig wurde, als er sich zu bücken versuchte. Er bot ein Bild des Jammers. Trotzdem versuchte ich nicht noch einmal, ihn zu überreden, in der Kabine zu bleiben. Eines hatte ich in den fünfunddreißig Tagen, die ich jetzt mit ihm zusammen war, gelernt – nämlich, dass es unmöglich war, Randolph Montague irgendetwas auszureden, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte.
    Die Kälte schlug mir wie eine unsichtbare eisige Kralle ins Gesicht, als ich vor ihm ins Freie trat. Ich fröstelte, zog das dünne Cape, das ich über die Schulter geworfen hatte, enger zusammen und sah mich auf Deck um. Der Nebel war noch dichter an das Schiff herangekrochen und lastete wie eine undurchdringliche graue Mauer jenseits der Reling. Für einen Moment fiel es mir schwer, wirklich zu glauben, dass ich mich an Bord eines Schiffes befand. Um uns war kein Ozean mehr, sondern nur noch eine graue, triste Unendlichkeit, in der allenfalls noch Platz für Furcht war.
    »O Gott«, keuchte Montague. Er trat gebückt hinter mir durch die Tür, blieb stehen und streckte die Hand aus, um sich auf meine Schulter zu stützen. Ich spürte, wie seine Hände zitterten. »Sie sind es«, flüsterte er. »Es ist … schlimmer, als ich gefürchtet habe.«
    Ich sah ihn fragend an, aber er schien mich gar nicht mehr zu bemerken. Sein Blick bohrte sich in die graue Wand, die das Schiff einschloss, und wieder sah ich in seinen Augen diesen Ausdruck von Furcht, den ich schon mehrmals an ihm beobachtet hatte.
    »Wo ist … der Captain?«
    Ich hob den Kopf, sah zum Achterdeck hinauf und deutete auf Bannermanns untersetzte Gestalt, die sich wie ein tiefenloser schwarzer Schatten gegen den grauen Hintergrund des Nebels abzeichnete.
    »Bring mich zu ihm«, murmelte Montague.
    Ich ergriff seine Hand, legte die andere stützend unter seinen Ellbogen und führte ihn behutsam wie ein kleines Kind, das seine ersten zaghaften Gehversuche macht, die steile Treppe zum Achterdeck hinauf. In den Nebelwolken neben dem Schiff begann eine vage, nicht wirklich sichtbare Bewegung, und für einen ganz kurzen Moment glaubte ich ein schweres, unendlich mühsames Atmen zu hören.
    »Montague!«
    Bannermann hatte uns entdeckt und kam mit weit ausgreifenden Schritten über das feuchtglitzernde Deck auf uns zugeeilt. Auf seinem Gesicht lag ein
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