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Als der Meister starb

Als der Meister starb

Titel: Als der Meister starb
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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dazu, von mir zu erzählen: von meiner Jugend, dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, Tante Maude, meinem Leben hier in New York – alles. Ich dachte damals, es wäre der ungewohnte Champagner, der meine Zunge löste, aber heute bin ich mir sicher, dass es nur an ihm lag. Ich weiß nicht wie, aber Montague brachte mich dazu, ihm mehr über mich zu erzählen als jemals einem anderen Menschen zuvor. Wir unterhielten uns die ganze Nacht, und als uns der Oberkellner schließlich hinauskomplimentierte, ging draußen bereits die Sonne auf.
    Zum Abschied schenkte mir Montague dann sein silbernes Zigarrenetui und fünfzig Dollar.
    Ich habe die Geschichte keinem erzählt – es hätte mir sowieso niemand geglaubt –, und nach ein paar Wochen begann ich den merkwürdigen Fremden zu vergessen.
    Aber viereinhalb Monate später war er wieder da, und diesmal suchte er mich.
    Er war verändert. Der Streifen weißen Haares über seinem rechten Auge war breiter geworden, und in seinem Blick lag ein gehetzter, fast angstvoller Ausdruck, den ich nur zu gut kannte. Er wirkte um Jahre älter als in jener Nacht, in der ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte.
    Was er von mir wollte, war so einfach wie unglaublich: mich. Er erzählte, dass er Amerika verlassen und nach England gehen würde, und er bat mich, ihn zu begleiten, offiziell als sein Sekretär, in Wirklichkeit als eine Art Mädchen für alles: Butler, Koch, Kutscher – und Leibwächter. Der letzte Teil seiner Eröffnung überraschte mich kaum noch. Ich habe den Ausdruck, der damals in seinen Augen stand, oft genug gesehen, um zu wissen, was in Randolph Montague vorging.
    Er hatte Angst. Panische Angst.
    Ich habe ihn nie gefragt, vor wem er davonlief, weder damals noch während der Überfahrt. Aber ich sagte zu. New York hat mir nie gefallen, und ich stehe auf dem Standpunkt, dass mir Amerika mehr genommen als gegeben hat – die fünfundzwanzig besten Jahre meines Lebens nämlich, die ich in Armut und Not verbracht hatte – und der Gedanke, auf diese Weise vielleicht eine zweite Chance zu bekommen und auf dem Kontinent noch einmal neu anfangen zu können, erschien mir verlockend.
    Noch am gleichen Abend gingen wir an Bord des Schiffes, und als die Sonne am nächsten Morgen aufging, waren wir bereits fünfzig Meilen weit draußen auf See …
    Ein leises, mühevolles Stöhnen drang in meine Gedanken. Ich fuhr hoch, stand mit einer fast schuldbewussten Bewegung auf und beugte mich erneut über das Bett. Montagues Lider zitterten, aber er schien das Bewusstsein nicht zurückzuerlangen. Seine Haut glänzte fiebrig, und die Hände unter der dünnen Decke bewegten sich unablässig, als wollten sie etwas packen.
    Ein seltsames Gefühl von Hilflosigkeit überkam mich. Montague war in mein Leben gekommen wie der Märchenprinz in das Aschenputtels; er hatte mich im wahrsten Sinne des Wortes aus der Gosse aufgelesen, mir anständige Kleider gegeben und versucht, das aus mir zu machen, was Tante Maude als einen »anständigen Burschen«, bezeichnet hätte. Alles, was er dafür verlangte, war meine Hilfe. Und ich konnte nichts für ihn tun. Gar nichts. Selbst das Chinin – das einzige Medikament, über das die Bordapotheke der LADY OF THE MIST verfügte – hatte sein Fieber nicht senken können.
    Ich schluckte ein paar Mal, um den üblen Geschmack, der sich auf meiner Zunge eingenistet hatte, loszuwerden, nahm den Wasserkrug vom Regal und befeuchtete ein Tuch, um seine Stirn zu kühlen. Es war nicht mehr als eine Geste, aber die Vorstellung, einfach untätig an seinem Bett zu sitzen und zuzusehen, wie er litt, war mir unerträglich.
    Er erwachte, als ich das Tuch auf seine Stirn legte. Seine Haut war heiß; ich erschrak, als ich sie berührte.
    »Robert?« Er öffnete die Augen, aber sein Blick war verschleiert, und ich hatte das sichere Gefühl, dass er mich nicht erkannte. Ich nickte, ergriff seine Hand und drückte sie leicht.
    »Ja, Mister Montague«, antwortete ich. »Ich bin es. Es ist alles in Ordnung.«
    »In … Ordnung«, wiederholte er halblaut. Seine Stimme klang brüchig, wie die eines Greises, und sein Atem roch schlecht. Er schwieg einen Moment, schloss die Augen und hob dann mit einem Ruck wieder die Lider. Diesmal war sein Blick klar.
    »Wo sind wir?«, fragte er. Er versuchte sich aufzusetzen, aber ich drückte ihn mit sanfter Gewalt auf das Kissen zurück. »Sind wir in … England?«
    »Fast«, antwortete ich. »Es ist nicht mehr weit.«
    Er starrte mich an, schloss
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