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Als der Meister starb

Als der Meister starb

Titel: Als der Meister starb
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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zitterten noch immer, als ich die niedrige Tür im Achteraufbau öffnete und zu unserer Kajüte hinabstieg.
    Die Kabine war dunkel und eng, und die Luft roch schlecht; wie es eben in einem fensterlosen Raum riecht, der viel zu klein für zwei Menschen ist und in dem zudem noch seit annähernd fünf Wochen ein Kranker liegt. Eine winzige, rußende Petroleumlampe schaukelte an einem Draht unter der Decke, und Bannermann hatte – fürsorglich, wie er nun einmal war – einen kleinen Tonkrug mit wohlriechenden Kräutern, den er weiß-Gott-wo aufgetrieben haben mochte, auf das schmale Wandregal neben der Tür stellen lassen. Aber auch er vermochte den muffigen Geruch, der sich in den Wänden eingenistet hatte, nicht vollends zu vertreiben. Wie fast immer, wenn ich hier herunter kam, hatte ich das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können.
    Und wie immer, wenn ich diesen Gedanken dachte, überfiel mich fast sofort ein schlechtes Gewissen. Montague konnte nichts dafür, dass er krank war. Und er war sehr gut zu mir gewesen, obwohl ich es nun wirklich nicht verdient hätte.
    Leise trat ich an das schmale, an der Wand verschraubte Bett, beugte mich über den Schlafenden und betrachtete sein Gesicht. Es hatte sich nicht verändert, weder zum Guten noch zum Schlechten. Seine Wangen waren noch immer grau und eingefallen, und unter den großen, in den letzten Tagen vom Fieber trübe gewordenen Augen lagen tiefe schwarze Ringe. Und es faszinierte mich noch immer so wie beim ersten Mal, als ich es gesehen hatte.
    Ich erinnerte mich gut an jenen Tag, an jede Minute und jedes Wort, ja, jeden Blick, den er mir bei unserem ersten Zusammentreffen zugeworfen hatte, obwohl seither mehr als sechs Monate vergangen und so viel geschehen war. Ich war damals ein anderer, und das meine ich ganz genauso, wie ich es sage. Bannermann und seine Matrosen hätten den Mann, der ich damals gewesen war, nicht einmal erkannt, wenn er plötzlich neben mir gestanden hätte. Ich war vierundzwanzig, arm und abenteuerlustig (was nichts anderes bedeutete, als dass ich die Hälfte der acht Jahre, die ich in New York gelebt habe, in den dortigen Gefängnissen verbrachte) und lebte von Gelegenheitsarbeit. Jedermann, der das New Yorker Hafenviertel kennt, weiß, was das bedeutet – nämlich, dass ich auch ab und zu einen ahnungslosen Fremden, der sich nach Dunkelwerden in diese Gegend verirrte, um Geldbörse und Schmuck erleichterte. Nicht, dass es mir Spaß gemacht hätte: Ich bin nicht kriminell, und Gewalt ist mir zuwider. Aber es gibt einen Teufelskreis in den großen Städten an der Ostküste, aus dem man nicht mehr herausfindet. Als ich nach New York kam, war ich sechzehn und hatte außer den sechsundneunzig Einwohnern von Walnut Falls, dem Kaff, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, noch keine Menschenseele gesehen. Die Tante, bei der ich groß geworden bin (es war nicht wirklich meine Tante, sondern einfach eine grundgütige Frau mit einem großen Herzen, die sich meiner annahm, nachdem meine Eltern mich bereits als Säugling ausgesetzt hatten), war gestorben, und ihre gesamte Hinterlassenschaft bestand aus sieben Dollar, einem winzigen silbernen Kreuz an einer Kette und einer Fahrkarte nach New York. In dem Brief, den sie ihrem Testament beifügte, erklärte sie mir, dass sie hoffte, ich würde in der großen Stadt mein Glück machen und ein anständiger Bursche werden.
    Gute Tante Maude! Sie mochte die liebenswerteste Frau sein, die jemals gelebt hat, aber von den Menschen verstand sie nichts. Vielleicht wollte sie auch einfach nicht glauben, dass die Welt schlecht ist.
    Aber sie ist es, und ich brauchte nur ein paar Tage, um es herauszufinden. Die sieben Dollar waren bald aufgebraucht. Für einen Burschen vom Lande wie mich gab es in der Stadt kaum eine Arbeit, und schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als zu stehlen und mich einer der Jugendbanden anzuschließen, deren Revier die Hafenbezirke der Stadt waren. Ich schlief unter den Kais, arbeitete, wenn ich etwas fand, und stahl, wenn ich nichts fand. Jetzt, im Nachhinein, ist es mir ein Rätsel, wie es mir gelungen ist, aber irgendwie konnte ich mich während der gesamten acht Jahre meiner zweifelhaften Karriere von allen wirklich schweren Verbrechen fern halten; wenn meine Kameraden einen größeren Einbruch begingen oder gar ein Mord geschah (auch das kam vor), war ich nie dabei.
    Und trotzdem wäre ich wahrscheinlich über kurz oder lang in einem Zuchthaus oder am Galgen gelandet,
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