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Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Titel: Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
Autoren: Caroline Vermalle
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stand einen Augenblick mit großen Augen und aufgerissenem Mund im Türrahmen, von dem der kalte Regen tropfte. Die Kälte der Glasschale kroch in seine Hände. Plötzlich hob er den Blick zum Himmel, ohne etwas zu erkennen. Marcel hatte recht. In ihrem Alter hatten sie alle keine Zeit mehr zu verlieren, wenn sie glücklich sterben wollten.

7
    Am Tag nach dem Besuch bei Nane stand Jacqueline, die in das Hotel Atlantic zurückgekehrt war, noch vor sechs Uhr auf. Kopfschmerzen quälten sie. Die Schreie der Vögel und der Fischer und das rege Treiben am Hafen bei Sonnenaufgang waren schuld daran, dass sie so schlecht geschlafen hatte. Um halb sieben war sie angezogen und geschminkt. Die lachsfarbene Seidenbluse steckte in der braunen Leinenhose mit dem Gürtel aus feinem Leder. An ihrem viel zu schmalen Handgelenk trug Jacqueline ein Perlenarmband, und sie hatte einen rosafarbenen Lippenstift aufgetragen. Ihr Koffer war gepackt. Nane wollte sie um neun Uhr mit dem Wagen abholen. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis das Frühstück im Hotel serviert wurde.
    Jacqueline betrachtete sich eine Weile im Spiegel. Kaum schaute sie auf ihr Spiegelbild, da zog sie die Mundwinkel unmerklich nach oben, straffte die Schultern und kniff die Augen zusammen – eine Koketterie aus ihrer Jugendzeit. Sie fand, dass sie so hübscher und geheimnisvoller aussah. Dann gab sie ihrer Wasserwelle den letzten Schliff. Jacqueline war immer stolz auf ihre tadellose Frisur gewesen. Vielleicht sollte sie sich nach einem Friseur hier im Ort erkundigen. Allmählich trat ihr Bild in dem schweigenden Spiegel in den Hintergrund, und sie erinnerte sich an das Essen gestern Abend. Jacqueline hatte keinen Bissen herunterbekommen. Es war dennoch ein fantastisches Essen, das Nane und Arminda gemeinsam gezaubert hatten. Es wurde auf der Terrasse serviert. Zwei weitere Gäste waren gekommen – einflussreiche Leute aus Paris. Sie lachten über jede Bemerkung, die Nane machte. Arminda sprach wenig, doch sie schien sich wohlgefühlt zu haben. Jacqueline sagte den ganzen Abend kein einziges Wort. Nein, das stimmte nicht. Sie stammelte, dass sie aus Erquy komme, aber eigentlich auch wieder nicht. Ach, wie ungeschickt. Dafür sprach Nane zum Glück umso mehr. Nane. Jacqueline beobachtete sie den ganzen Abend, und heute Morgen hoffte sie, dass ihr Verhalten nicht zu sehr aufgefallen war.
    Sie schaute in den Spiegel, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und warf einen Blick auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde, bis sie hinuntergehen konnte. Jacqueline beschloss, das Bett zu machen. Das Zimmermädchen würde das Bett zwar frisch beziehen, doch sie ertrug den Anblick eines ungemachten Bettes nicht. Nachdem alle Falten aus der Bettdecke verschwunden waren, setzte sie sich hin. Jacqueline nahm die Zeitschrift »Elle« vom Nachttisch, die sie im Zug an sich genommen hatte, nachdem ihre Reisebekanntschaft gegangen war. Sie blätterte in der Zeitschrift, doch sie sah auf denglänzenden Seiten nur die Ereignisse des gestrigen Tages. Und Nane.
    Nane war damals beinahe wie eine Schwester für sie. Jacquelines Familie nahm sie als Zwölfjährige auf, nachdem ihre Eltern im Krieg umgekommen waren. Nanes Vater war der Bruder von Jacquelines Vater, und sie wuchsen praktisch gemeinsam auf. Dennoch erkannte sie Nane kaum wieder. Während des Essens gestern Abend hatte Jacqueline heimlich Nanes Gesicht betrachtet. Sicher, sie war gealtert. Zu fettes und süßes Essen. So viel stand fest. Vielleicht trank sie auch ein wenig zu viel. Nane kippte ihre Gläser wie ein Mann hinunter, und die rechte Seite ihres Gesichts schien leicht erstarrt zu sein. Der rechte Mundwinkel wirkte ängstlicher und das rechte Auge dunkler. Eine Nachbarin von Jacqueline in Erquy war einst an Gürtelrose erkrankt. Anschließend blieb ein Teil des Gesichts gelähmt und entstellte sie vollkommen. Aber bei Nane fiel es kaum auf. Vielleicht hatte Jacqueline es sich sogar nur eingebildet.
    Doch das war nicht alles. Von ihren dicken schwarzen Haaren war kein einziges mehr da. Jacqueline erinnerte sich, wie gerne sie das Haar ihrer Cousine gekämmt, geflochten und zu Locken gedreht hatte. Manchmal schnitt sie ihr sogar das Haar. Nane genoss diese vertrauten Augenblicke immer. Auch auf ihren ehemals guten Geschmack in Kleidungsfragen wies heute nichts mehr hin. Gestern empfing sie ihre Gäste in einem anderen, ebenfalls ausgewaschenen T-Shirt, einer alten Strickjacke und in Sportsandalen, aus denen die
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