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Allmen und die verschwundene María

Allmen und die verschwundene María

Titel: Allmen und die verschwundene María
Autoren: Martin Suter
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Über der Tür führten ein paar Leitungen, ein paar davon isoliert, an der Decke entlang quer durch den Raum. In einer Ecke stand eine Palette, auf der ein beschädigter Sack Zement lag.
    Sie rief, schrie und pfiff durch die Zähne, wie sie es als kleines Mädchen getan hatte, um die Buben des Barrios zu beeindrucken. Aber sie merkte bald, dass keiner sie hörte.
    Den ganzen Vormittag quälte sich María mit Gedanken an Carlos. Wie ging es ihm? Hatte er inzwischen die Polizei benachrichtigt? Oder war er seinem Prinzip »keine Papiere, keine Polizei« treu geblieben? Und Señor von Allmen? Wie verhielt er sich? Versuchte er, Carlos zu beruhigen? Sie hatte oft den Eindruck, dass er dazu neigte, vor den unangenehmen Dingen des Lebens die Augen zu verschließen. Sagte er: Die kommt schon wieder, Frauen sind unberechenbar?
    Am Nachmittag war Due wiedergekommen, diesmal mit dem gutaussehenden Begleiter, der den Wagen gefahren hatte. Sie hatten mit seinem Handy Allmen angerufen und es ihr für ein paar Worte ans Ohr gehalten. Danach hatte der Gutaussehende wortlos den Raum verlassen.
    Due war ihm nicht gleich gefolgt. Er hatte eine [29]  duftende Pizzaschachtel dabeigehabt. Die öffnete er jetzt und hielt sie María unter die Nase. Sie spuckte darauf. Ihre Hände waren noch immer auf den Rücken gefesselt.
    Er legte die Schachtel neben die Matratze, kam zu María zurück und öffnete zwei Knöpfe ihrer Bluse. Sie sagte nichts, sah ihn nur verächtlich an.
    Danach zog er ein Handy aus der Tasche. Es war ihr eigenes. Er zeigte ihr vierzehn entgangene Anrufe. Einen von Allmen, dreizehn von Carlos.
    Das war der Moment, in dem sie ihn hijo de puta nannte und er ihr eine knallte.
    Danach steckte er das Handy wieder ein, nahm ein Springmesser aus der Hosentasche, ließ es aufschnappen, stand einen Moment mit blanker Klinge dicht vor ihr und ging dann um sie herum.
    Sie spürte die Kälte der Klinge. Aber nur an ihrem Handgelenk, als er das Armband ihrer Uhr und die Fessel durchschnitt.
    Beim Verlassen ihres Gefängnisses deutete er zwischen seine Beine und warf ihr eine Kusshand zu.
    Inzwischen waren ein paar Stunden vergangen. Das Licht, das durch das Fenster fiel, begann sich einzutrüben. Am Abend würden die beiden wiederkommen.
    [30]  5
    Carlos kniete vor der Kommode in dem winzigen Schlafzimmer. Er räumte ihren Inhalt aus, bis er auf eine zerbeulte Schuhschachtel stieß. Er rappelte sich auf, ging damit in das andere winzige Zimmer, das María und ihm als Wohnraum diente, und legte sie auf den Tisch. Er brauchte lange, bis er den Knoten der Packschnur geöffnet hatte und den Deckel abnehmen konnte.
    In der Schachtel lag eine schwarzgekleidete Puppe. Ihre hölzernen Beine waren hochgeklappt, damit sie in die Schachtel passte. Carlos baute aus zwei Büchern ein Podest, klappte die Beine herunter und setzte die Puppe darauf. In dem weißbemalten Gesicht sah man zwei schwarze Augen. Der Rest war fast gänzlich von schwarzen Bart- und Brauenhaaren verdeckt.
    Carlos nahm ein kleines buntgewebtes Stück Tipicostoff aus der Schachtel und legte es der Puppe um die Schultern. Auf den kahlen Holzschädel setzte er einen breitkrempigen Hut, dann verbeugte er sich vor der Puppe, bekreuzigte sich und murmelte: »Oh poderoso Hermano Maximón.« Oh mächtiger Bruder Maschimon.
    Er hatte die Figur vor Jahren von einem Landsmann geschenkt bekommen, den er heimlich in [31]  einer Mansarde von Don Johns Villa untergebracht hatte, bevor dieser gezwungen war, die Villa zu verkaufen. Maximón, der auch San Simón genannt wurde, war halb Heiliger, halb Teufel und hatte in Carlos’ Leben – wie im Leben aller Mayas aus dem guatemaltekischen Hochland – eine wichtige Rolle gespielt. Er war ein Heiliger aus dem Volk, rauchte und trank, war hinter den Frauen her und half bei allem, worunter die einfachen Menschen zu leiden hatten. In Carlos’ Dorf wohnte Maximón jedes Jahr in einem anderen Haus. Jeden Tag besuchten ihn Menschen, die Hilfe brauchten, und opferten ihm Schnaps und Tabak und Blumen und Kerzen. Und wenn niemand kam, sorgten die Männer seiner Bruderschaft dafür, dass ihr Chef immer zu rauchen und zu trinken hatte.
    Carlos hatte ihn, seit er ihn geschenkt bekommen hatte, noch nie aus seiner Schachtel geholt. Doch jetzt tat er ihm die ganze Ehre an: Er umstellte ihn mit Kerzen und den Maiglöckchen, die er im Garten gepflückt und in Mokkatässchen gestellt hatte. Er wählte den exklusivsten Armagnac aus Allmens Hausbar und füllte
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