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Alles zerfällt: Roman (German Edition)

Alles zerfällt: Roman (German Edition)

Titel: Alles zerfällt: Roman (German Edition)
Autoren: Chinua Achebe
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Den Rest verstand Obierika nicht, weil ihm in diesem Moment jemand von hinten auf die Schulter tippte und er sich umdrehte, um fünf oder sechs Freunden die Hand zu reichen und Grüße zu wechseln. Okonkwo drehte sich nicht um, obwohl er die Stimmen kannte. Ihm war nicht nach Begrüßungen. Doch einer der Männer berührte ihn und fragte nach den Seinen zu Hause.
    »Es geht gut«, sagte er lustlos.
    Als Erster sprach an diesem Morgen in Umuofia Okika [151]   , einer der sechs Festgenommenen. Okika war ein großer Mann und ein großer Redner. Doch besaß er nicht die Donnerstimme, über die ein erster Sprecher gebieten muss, um Ruhe in die Versammlung des Klans zu bringen. Onyeka [152]   besaß eine solche Stimme, und so hatte man ihn gebeten, Umuofia zu begrüßen, ehe Okika sprach.
    »Umufia kwenu!« , brüllte er, hob die Linke und stieß die gespreizten Finger in die Luft.
    »Yaa!« , brüllte Umuofia.
    »Umufia kwenu!« , brüllte er wieder – und wieder und wieder, sich jedes Mal einer anderen Richtung zuwendend. Und jedes Mal antwortete die Menge: » Yaa!«
    Sofort herrschte Schweigen, als hätte man in brausende Flammen kaltes Wasser gegossen.
    Okika sprang auf und begrüßte seine Klansleute ebenfalls viermal. Dann hob er zu sprechen an:
    »Ihr alle wisst, weshalb wir hier sind, obwohl wir eigentlich unsere Speicher richten oder unsere Hütten erneuern, obwohl wir unsere Höfe in Ordnung bringen müssten. Mein Vater hat oft zu mir gesagt: ›Wenn du am helllichten Tag eine Kröte springen siehst, dann weißt du, dass ihr etwas nach dem Leben trachtet.‹ Als ich euch alle aus allen Vierteln unseres Klans zu dieser Versammlung strömen sah, wusste ich, dass euch etwas nach dem Leben trachtet.« Er legte eine kurze Pause ein, dann ging es weiter:
    »Alle unsere Götter weinen. Idemili weint. Ogwugwu weint. Agbala weint und alle anderen. Unsere toten Väter weinen über die schändliche Entweihung, die ihnen widerfahren ist und den Frevel, den wir alle mit unseren eigenen Augen gesehen haben.« Er hielt erneut inne, um das Beben seiner Stimme zu bezwingen.
    »Dies ist eine große Versammlung. Kein Klan kann sich einer größeren Zahl oder größerer Tapferkeit brüsten. Doch sind alle hier? Ich frage euch: Sind alle Söhne Umuofias bei uns?« Ein Raunen ging durch die Menge.
    »Sie sind es nicht«, fuhr er fort. »Sie haben den Klan zerrissen und sind ihren eigenen Wegen gefolgt. Wir, die heute Morgen hier versammelt sind, sind unseren Vätern treu geblieben, doch unsere Brüder haben uns verlassen und sich mit einem Fremden verbündet, um ihr Vaterland zu entehren. Wenn wir den Fremden bekämpfen, werden wir unsere Brüder treffen und womöglich das Blut eines Klanmitglieds vergießen. Doch wir müssen es tun. Unsere Väter hätten sich dergleichen nie träumen lassen, nie haben Brüder Brüder getötet. Doch zu ihnen kam nie ein weißer Mann. Also müssen wir tun, was unsere Väter nie getan hätten. Der Vogel Eneke wurde gefragt, weshalb er stets im vollen Fluge unterwegs sei, und seine Antwort lautete: ›Die Menschen haben gelernt, zu schießen, ohne ihr Ziel zu verfehlen; ich habe gelernt, zu fliegen, ohne mich je niederzulassen.‹ Wir müssen das Übel mit der Wurzel ausreißen. Und wenn unsere Brüder sich auf die Seite des Übels schlagen, müssen wir auch sie ausreißen. Und wir müssen es jetzt tun. Wir müssen dieses Wasser ausschöpfen, solange es uns nur bis zu den Knöcheln steht …«
    In diesem Augenblick entstand Unruhe unter den Zuhörern, und alle Blicke gingen in eine Richtung. Der Pfad, der vom Marktplatz zum Hof des weißen Mannes und dahinter zum Fluss führte, machte einen scharfen Knick. Und so hatte niemand den Anmarsch der fünf Gerichtsdiener bemerkt, bis sie um die Ecke bogen, wenige Schritte vom Rand der Versammlung entfernt. Okonkwo saß an diesem Rand.
    Er sprang auf, als er sah, wer da kam. Bebend vor Hass, unfähig zu sprechen, stellte er sich dem Hauptdiener in den Weg. Dieser, furchtlos mit vier Mann im Rücken, wich nicht von der Stelle.
    In diesem kurzen Moment schien die Welt anzuhalten und zu warten. Kein Mucks war zu hören. Die Männer Umuofias wurden eins mit der stummen Kulisse der Bäume und Lianen und verharrten.
    Der Hauptbote brach den Bann. »Lass mich durch!«, befahl er.
    »Was willst du hier?«
    »Der weiße Mann, dessen Macht du nur zu gut kennst, befiehlt, die Versammlung aufzulösen.«
    Im Nu hatte Okonkwo sein Kampfmesser gezückt. Der Bote duckte
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