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Alles was du wuenschst - Erzaehlungen

Titel: Alles was du wuenschst - Erzaehlungen
Autoren: Anne Enright
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hätte, was hätte sie schon sagen können? Colm und Maureen waren längst Mitte fünfzig und hatten selbst Kinder. Sie waren älter als Dellas Arzt, älter als die meisten Leute. Kaum auszudenken, wie peinlich es wäre, sie zu bitten, sich ihres Vater zu erinnern. Kaum auszudenken, wie es wäre, wenn sie abgewiesen würde.
    Dennoch sah sie im Telefonbuch nach und fand den Namen des Sohnes, Colm Delaney. Della hatte ein Bild von ihm vor Augen, als er fünf war; ein Charmeur und frech wie Blech. Doch schon damals hatte sie das Gefühl, am Ende würde sich das Blech durchsetzen und der Charme mürrisch werden wie der seines Vaters, der immer eine säuerliche Bemerkung auf den Lippen hatte. Und sie griff nicht zum Telefonhörer.
    Er war ein höchst unangenehmer Mensch, dieser Mr Blindfisch, Mr Sockenschuss von nebenan. Eine seiner
ersten Äußerungen ihr gegenüber war gefallen, als sie, sie wohnten kaum drei Wochen in dem Haus, im Sommer 1950 mit dem Baby spazieren ging, ihren neugeborenen wunderhübschen Sohn vor sich herschob, damit alle ihn bewundern konnten, und er in den Kinderwagen schaute und sagte: »Für ein Aberdeen Angus ist er aber klein.« Dem konnte sie nun alle möglichen Anspielungen entnehmen. Die arme Della, unschuldige junge Ehefrau, die gerade ein neun Pfund schweres Baby aus sich herausgepresst hatte – die Angst, die sie davor gehabt hatte, und die Welt, die wie auf dem Kopf stand. Für ein Aberdeen Angus ist er aber klein. Sein Tonfall bohrte sich einem in den Schädel und richtete sich dort häuslich ein. Irgendwie verlachte er ihre lädierten Genitalien oder die Größe der Genitalien ihres Mannes – ihr Mann arbeitete damals in Schottland. Verlachte ihren närrischen Stolz auf ihr Baby und, schlimmer noch, nötigte sie, in sein Lachen einzustimmen.
    Und sie hätte den Vorfall vergessen, wenn er nicht so sehr in der Natur dieses Mannes gelegen hätte.
    »Sie haben sich heute aber in Schale geschmissen«, sagte er etwa, wenn er sie in der Küche mit seiner Frau bei einer Tasse Tee antraf. Als wolle sie zu weit über sich hinaus. Oder als lasse seine Frau sich gehen. Was immer er gemeint haben mochte, stets gelang es ihm, alle um ihn herum unglücklich zu machen.
    »Nun ja, Sie verstehen ja was davon«, sagte er, wenn von etwas Harmlosem wie dem Kauf eines Schweinekoteletts die Rede war.
    »Wovon denn? Wovon!?« Manchmal hätte sie ihn gern daran erinnert, dass er sie doch gar nicht kannte. Daran,
dass jeder das Nachbarhaus hätte kaufen können. Jeder hätte in dem kleinen Vorgarten mit einem Baby spielen können, wenn Tom vorbeiging und über die Mauer hinweg fragte: »Wie geht’s dem Blag?«
     
    Inzwischen war es Hochsommer, und Della wachte um vier Uhr nachts auf und schlief nachmittags um drei wieder ein. Es war sehr anstrengend, nicht im gleichen Takt mit der Welt zu leben, zu schnarchen, wenn die Lottozahlen gezogen wurden, und aufzuwachen, wenn ein hundsmiserabler Film unbeachtet vor sich hin lief. Dann schaltete sie den Fernseher aus, und über das Nachbild legte sich das Bild von den Knaben, die am Flussufer spielten. Dieses Bild versuchte sie festzuhalten, den Ort im Gedächtnis zu fixieren. Die weiße Gabel ihrer Beine; ihre Lässigkeit und Anmut, wie sie dastanden und dem Jungen zusahen, der sich mit seinem Stock über das Wasser beugte. Die Flachheit des Flusses unter ihm.
    Della rechnete damit, jeden Augenblick zu sterben. Aber der Tod wollte partout nicht eintreten – Fluss hin oder her. Dennoch, das war ein weiterer Grund, weshalb sie wegen des Mannes nebenan nichts unternehmen wollte. Hatte sie doch das kindische Gefühl, niemand könnte von ihr erwarten, ihm zu helfen, wenn sie tot wäre: Niemand könnte ihr Vorhaltungen machen, wenn sie zusammengesackt im Sessel säße und der Fernseher Nacht für Nacht in Panik geriete und darum betteln würde, jemand möge ihn ausschalten. Doch sie starb nicht. Ihr war nicht einmal schwindlig, wenn sie sich aus ihrem Sessel erhob. Lediglich der fremdartige Geruch
und die sich dahinziehenden Nächte des Alters suchten sie heim, wenn es nebenan dunkel wurde und das Kratzen und Klopfen seinen Fortgang nahm. Als wollte er unter die Haut seines eigenen Hauses dringen: der lästigste Mann der Welt.
    »Was haben Sie denn vor?«, hatte er sie einmal gefragt. »In Ihren guten Schuhen?«
    Vielleicht, so dachte sie all die Jahrzehnte später, hatte er über Sex geredet. Und das setzte ihr zu. Wie dreist von ihm, anzunehmen, sie könnte Interesse
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