Alles muss versteckt sein (German Edition)
Vera. »Soll das heißen, du leidest auch unter Zwängen?«
»Nein, bestimmt nicht.« Vera schüttelt den Kopf. »Ich bin nicht verrückt !« Marie zuckt zusammen, das Wort trifft sie wie ein Schlag. Veras Miene wird ernst. »Mir ist etwas passiert«, sagt sie, »was schlimmer ist als das, was du erleiden musstest.«
»Schlimmer?«
»Sehr viel schlimmer. Ich weiß, was mit einem Menschen geschieht, wenn ein anderer eben nicht nur denkt .« Ihre Stimme klingt zynisch, hart. »Sondern, wenn er es auch tut !« Jan Falkenhagen streicht ihr über den Kopf. Eine beschützende Geste, ein liebevolles »Ich bin bei dir«.
»Felix hat Vera als Kind missbraucht«, erklärt er. »Hat ihre Liebe zu ihm, ihre Abhängigkeit ausgenutzt. Nicht nur einmal, immer wieder hat er das getan, nachdem ihre Eltern gestorben waren und die Geschwister allein miteinander lebten. Bis Patrick irgendwann dahinterkam. Weil er das Tagebuch seines Bruder gefunden hat.«
»Ich selbst habe das erst später erfahren«, fügt Vera hinzu. »Viel später. Damals wusste ich das alles noch nicht.«
»Was?« Marie versteht kein Wort.
»Ganz einfach«, sagt Vera. »Felix hat mit mir geschlafen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Und es in sein Tagebuch geschrieben. Und Patrick … .« Während sie den Satz in der Schwebe lässt, fängt Marie an zu begreifen.
Ganz langsam setzt sich in ihrem Kopf tatsächlich alles zusammen, auf einmal ergibt alles einen Sinn. Einen vollkommen absurden Sinn. Aber einen Sinn. »Deshalb«, fragt sie zögerlich, »hat Patrick Felix nach Frankfurt zu eurer Tante geschickt? Er wollte dich beschützen.«
»Beschützen?«, schnaubt Vera. »Er wollte mich benutzen !« Sie schnappt nach Luft. »Jahrelang hab ich nicht gewusst, was mit mir nicht stimmt!«
»Menschen können Ereignisse, die sie nicht ertragen, vollkommen ausblenden«, bringt der Arzt eine Erkenntnis in Erinnerung, die er Marie schon einmal erklärt hat. »Und so war es auch bei Vera. Sie wusste, dass etwas nicht stimmt – aber sie hatte keine Ahnung, was genau.«
»Mit knapp fünfzehn ging es los«, spricht Vera weiter. »Panikattacken, wie aus dem Nichts, immer wieder schreckliche Anfälle. Und eine unerklärliche Angst vor Jungen. Während die anderen Mädchen ihre ersten Freunde hatten, hab ich mich schon geekelt, wenn mir nur einer zu nahe kam.« Bei der Erinnerung muss sie sich schütteln. »Wie eine Gefangene war ich, voller Ängste und Neurosen. Patrick hat mich dann irgendwann zu einem Therapeuten geschleppt, weil meine Panikanfälle von Jahr zu Jahr schlimmer wurden und er sie auch nicht verstand.« Sie lacht. »Weil er sie angeblich nicht verstand, weil er wollte, dass mir jemand hilft !«
Der Therapeut! Marie erinnert sich, wie Patrick ihr davon erzählt hatte, dass seine Schwester eine Zeit lang in psychologischer Behandlung war.
»Dann ist Patrick mit dir zu … « Sie sieht Vera fragend an.
»Richtig«, antwortet Dr. Falkenhagen an Veras Stelle. »Er ist mit ihr zu mir gekommen. Ich hatte gerade als Arzt in einer psychiatrischen Notfallambulanz angefangen und war im Dienst, als Patrick mit Vera auftauchte, weil sie gerade eine schlimme Panikattacke hatte. Sehr viel Erfahrung hatte ich da noch nicht. Aber Zeit.« Wieder ein zärtlicher Blick zu Vera. »Ich fing also an, mit ihr zu arbeiten«, spricht der Arzt weiter. »Mehr und mehr auch in meiner privaten Zeit, denn ich hatte sie sehr gern. Bald schon hatte ich vermutet, dass ein Missbrauch hinter ihren Panikattacken stecken könnte. Lange Zeit habe ich auf den Vater getippt, von ihren Brüdern sprach Vera immer nur voller Zuneigung und Wärme.«
»Ich habe sie beide vergöttert! Und Felix hat nie etwas gesagt. Er war ja froh, dass ich mich an nichts erinnern konnte. Alles war gut.« Sie gibt einen spöttischen Laut von sich. »Bis Patrick dann dieses widerliche Buch veröffentlichte.«
»Da bist du misstrauisch geworden?«, fragt Marie.
»Ja, natürlich«, antwortet sie. »Aber er hat Stein und Bein geschworen, dass es nur ein Roman, nur eine Erzählung sei. Er ist sogar mit zu meiner Therapie gekommen, um Jan davon zu überzeugen, dass er mich nie angerührt hat.« Sie grinst böse. »Hat er ja auch nicht, das hat er wirklich nie.«
»Und ich bin Patrick ebenfalls auf den Leim gegangen«, sagt der Arzt. »Nach einem langen Gespräch mit ihm war ich sicher, dass er tatsächlich nie etwas getan hatte.«
»Aber Felix hat es doch getan.« Marie traut sich kaum, das laut zu sagen, nur
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