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Alles muss versteckt sein (German Edition)

Alles muss versteckt sein (German Edition)

Titel: Alles muss versteckt sein (German Edition)
Autoren: Wiebke Lorenz
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Stimme ist schleppend, müde, die Worte kommen lallend, kaum artikuliert, dazu die verstopfte Nase, die tränenden Augen, der dämmrige, gebrochene Blick. So sehen die meisten auf dieser Station hier aus, medikamentös sediert, mit psychotropen Substanzen stillgelegt, jeder Handlungsfähigkeit beraubt, schlurfen sie durch die Gänge oder draußen durch den abgesicherten Innenhof.
    Marie hat Glück. Sie selbst muss nur manchmal, wenn Kummer und Schmerz sie zu überwältigen drohen, ein paar Beruhigungsmittel schlucken. Ansonsten harmlose, aber hoch dosierte Antidepressiva, das Dreifache der normalen Menge. Die lähmen nicht, aber sie sollen helfen, den Zwang in den Griff zu bekommen. F42.0 nach ICD -10, vorwiegend Zwangsgedanken , Maries Diagnose laut »Internationaler statistischer Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme«.
    So hat ihr Anwalt es ihr erklärt, ein simpler Buchstaben- und Zahlencode für diesen unbegreiflichen Dämon, der Marie schon so lange quält, ein Buchstabe und ein paar Ziffern für die Schreckensbilder und -gedanken, die ihren Kopf, ihre Seele, ihr gesamtes Leben beherrschen und es in Schutt und Asche gelegt haben. Dazu noch ein bisschen F33 für die rezidivierende depressive Episode, F61 für die kombinierte Persönlichkeitsstörung, von der niemand bisher so recht weiß, welche genau es ist (histrionisch? passiv-aggressiv? dissozial? Nun, das wird man mit der Zeit in dieser Einrichtung schon herausfinden), F44.0 für die dissoziative Amnesie, denn sie kann sich ja nicht daran erinnern, wie sie Patrick ermordet hat. Dass sie ihn überhaupt ermordet hat. Dann noch F43.1, eine posttraumatische Belastungsstörung hat sie schließlich auch, überhaupt sind die Diagnosen überlappend. Komorbidität, auch so ein Wort, das Marie von ihrem Anwalt gelernt hat. »Man kann auch Läuse und Flöhe haben«, hatte er ihr erklärt, als sie verwirrt wissen wollte, was das bedeutet. Gelandet ist sie hier nach Paragraf 63 StGB , Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, nicht nach Paragraf 64 StGB , Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Sie war zwar angetrunken in der Nacht, in der es geschah, aber eine von den »Suchtis«, das ist sie nicht, da gehört sie nicht hin. Die sind in einem anderen Gebäude und bekämpfen neben den unwillkommenen Geistern in ihrem Kopf noch Koks, Heroin, Cannabis, Benzodiazepine, Alkohol und was man sonst noch alles einnehmen kann, um die Unerträglichkeit des Seins ein wenig zu dämpfen, um sich selbst daran zu hindern, sich einfach umzubringen.
    Warum Marie also hier ist? Sie könnte Günther all diese Kennziffern nennen, um seine Frage zu beantworten. Aber keine von ihnen verrät die ganze Wahrheit, die Wahrheit darüber, was sie ist: ein Monster. So wie er, Günther. So wie sie alle hier. Trotzdem ist Marie eben nicht ausgeschaltet wie ein Großteil der anderen Patienten, nach der Beobachtungsphase auf der Akutstation gilt sie nicht als selbst- oder fremdgefährdend, also wird sie nicht medikamentös ruhiggestellt. Da hat Marie wirklich, wirklich Glück.
    Oder auch nicht, denkt sie, während sie nun Günther betrachtet, der noch immer den Blick unverwandt auf sie gerichtet hält. Seine Nase läuft, mit dem Handrücken wischt er sich den Schnodder weg und streift ihn an seiner abgestoßenen Cordhose ab, um eine Sekunde später geräuschvoll den restlichen Rotz hochzuziehen. Rotz, der sich mit Pasta vermischt, eine zähe, breiige Masse, die er beim Kauen mit offenem Mund hin und her wälzt. Wäre Marie wie er, eine von den Lahmgelegten, müsste sie jetzt nicht wegsehen, sich abwenden und den Würgereiz niederkämpfen, den Kopf senken und auf ihren Plastikteller mit der Lasagne starren. Sie hat so gut wie nichts davon angerührt, das tut sie fast nie. Wozu essen, wenn man keine Energie mehr braucht, wozu den Körper erhalten, wenn die Seele schon tot ist?
    Maries Blick wandert neben den Teller zu ihrer zitternden Hand, mit der sie ihre Gabel hält. »23« steht auf dem Griff, die gleiche Zahl ist ins Messer eingraviert. Das ist Maries Nummer, die 23, auch das Besteck wird hier mit Zahlen versehen, genau wie die Erkrankungen seiner Benutzer. Nach dem Essen wird sie es beim Küchenpersonal abgeben, denn immer muss peinlich genau darauf geachtet werden, dass jeder Patient alles abgeliefert hat. Keine Gabel, kein Löffel und erst recht kein Messer darf einbehalten werden, Maries 23 wird jeden Tag dreimal kontrolliert, morgens, mittags,
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