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Alles muss versteckt sein (German Edition)

Alles muss versteckt sein (German Edition)

Titel: Alles muss versteckt sein (German Edition)
Autoren: Wiebke Lorenz
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abends.
    Manchmal kommt es vor, dass einer der Patienten ein Teil verschwinden lässt, es unter den Pulli steckt oder in irgendeine Körperöffnung schiebt, vaginal, rektal, ganz egal. Oder sein Besteck aus reiner Boshaftigkeit in einen Mülleimer wirft. Dann heißt es »Alarmstufe Rot«, die gesamte Station wird gesperrt, alle Zimmer abgeschlossen, und eine hektische Suche beginnt. So lange, bis das fehlende Teil gefunden wird, ist das Pflegepersonal im Ausnahmezustand. Denn die Gefahr ist zu groß, dass ein Messer oder eine Gabel später in einem ihrer Rücken wieder auftaucht oder einer der Insassen – nein, Patienten! – versucht, sich damit seinen Weg in die Freiheit zu erzwingen. Allein den Versuch findet Marie absurd. Welche Freiheit kann das schon sein? Sie alle sind in ihrem inneren Gefängnis lebenslänglich eingesperrt, dazu braucht es keine Mauern, Zäune, Stahltüren oder Fenster aus Panzerglas, eine zerrissene Seele ist ein verlässlicherer Kerker als jeder Hochsicherheitstrakt.
    »Kein Bock zu reden, oder was?« Marie betrachtet Günthers Teller, seine Lasagne, und seine Nummer. 5. »Nummer 5 lebt«, denkt sie. Und als Nächstes »23«, das war auch ein Film, da ging es um eine Verschwörungstheorie, daran erinnert sie sich, sie hat ihn damals im Kino zusammen mit ihrem Mann Christopher gesehen. Marie hebt den Kopf und blickt in Günthers aufgedunsenes Gesicht. Sie also nun hier, in diesem Raum, mit diesem Menschen – muss das nicht auch eine Verschwörung sein? Elli hatte es doch wieder und wieder behauptet: »Denken ist nicht tun.« Also kann es doch gar nicht sein, dass sie etwas »gemacht« hat, es kann doch einfach nicht sein!
    »Das ist alles nur in meinem Kopf«, ein Song von Andreas Bourani, das Lieblingslied der Sonnenblumengruppe. Das war ihre Gruppe im Kindergarten Mansteinstraße, fünfundzwanzig süße Mäuse, mit denen sie als Erzieherin »gearbeitet« hat: hat mit ihnen gebastelt, geturnt, Waldtag, schwimmen gehen, Gedichte lernen, Theaterstücke für Weihnachten einstudieren, alles, was kleine Kinder lieben.
    Und sie hat diese Kinder geliebt, das hat Marie, wirklich, und das tut sie noch. Wenn sie jetzt daran denkt, wie glücklich sie war, glücklich in ihrem Unglück, wenigstens das war sie – und sie hat es dabei nicht einmal gemerkt. Dazu musste erst das hier passieren, musste sie erst auf dieser Station landen, um zu begreifen, dass sie doch eigentlich glücklich war. Das ist alles nur in meinem Kopf, alles nur in meinem Kopf … Aber eben das stimmt nicht, es ist nicht in ihrem Kopf geblieben, sonst wäre sie ja nicht hier.
    »Was glotzt du denn so blöd?« Günther lässt seine Gabel klirrend auf den Tisch fallen und starrt sie angriffslustig an, sucht wieder Streit mit einem Nachbarn, wenn auch nur am Tisch. Sofort kommt ein Pfleger herbeigeeilt und stellt sich direkt hinter ihn, alle Muskeln im Körper zum sofortigen Einsatz angespannt. »Alles in Ordnung?«, fragt er. Günther zieht den Kopf ein wie ein geprügelter Hund, fehlt nur ein gequältes Jaulen oder Fiepen. Dann greift er wieder nach seiner Gabel und schaufelt weiter Pasta in seinen Mund, als wäre nichts.
    Marie steht auf, nimmt ihr Tablett, geht wortlos rüber zu den Rollcontainern und schiebt es in eine freie Schiene. Ihr Besteck wirft sie in den Sammeleimer, neben dem eine junge Schwester steht und die Rückgabe überwacht. Schlafen, denkt sie, als sie draußen durch den langen Flur in Richtung ihres Zimmers geht, sie will einfach nur ein bisschen schlafen, so, wie sie es die meiste Zeit tut.
    Wer schläft, sündigt nicht. Ein nächster Gedanke, und sie muss fast lachen. Auch das ist falsch, so falsch wie die Dinge, die nur in ihrem Kopf sind. Denn es ist ja im Schlaf passiert, nachts, da hat sie es getan. Hat das Messer genommen, Patrick die Kehle durchgeschnitten und dann auf ihn eingestochen. Sünde im Schlaf. Patrick hatte keine Chance gegen die »scharfe Gewalt«, so der Fachbegriff für das, was Marie getan hat. Im Gegensatz zu »stumpfer Gewalt«, wenn sie ihm mit einem Kristallaschenbecher oder einem Kerzenleuchter den Schädel eingeschlagen hätte. Aber das hat sie eben nicht, sie hat das Messer benutzt.
    Heimtückisch, das hat der Richter gesagt, ja, ganz heimtückisch hat sie ihn ermordet. Nur das Warum, das konnte sich niemand erklären. Am wenigsten Marie selbst, denn sie hat Patrick ja geliebt, genau wie die Kinder, wenn auch natürlich auf eine andere Art und Weise. Er war es gewesen, der sie zum
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