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Alles muss versteckt sein (German Edition)

Alles muss versteckt sein (German Edition)

Titel: Alles muss versteckt sein (German Edition)
Autoren: Wiebke Lorenz
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sie links und rechts an den Armen gepackt halten. Wütend tritt sie um sich, das Gesicht verzerrt, Speichel tropft ihr aus dem rechten Mundwinkel. »Scheiße, ihr Wichser, loslassen!« Wieder tritt sie zu, doch sie trifft nicht, die Männer greifen ihr unter die Achseln, zerren sie hoch, ihre Füße strampeln in der Luft wie bei einer Marionette. Dr. Falkenhagen eilt herbei, ruft den Pflegern etwas zu, die Susanne den Flur runter zum Ende des Ganges schleifen. Wie ein wild gewordenes, tollwütiges Tier, Susannes Speichel spritzt durch den Flur, während sie weiterbrüllt, brüllt, brüllt, Spucke landet auf den selbst gemalten Bildern an den Wänden. Abstrakte Kleckse aus der Kunsttherapie, die hier alles ein bisschen »schöner« und »freundlicher« machen sollen.
    Das Vandalenzimmer, da wird Susanne nun landen, bis sie sich wieder beruhigt hat, bis sie wieder »vernünftig« ist, in ein, zwei oder drei Tagen, vielleicht dauert es auch länger. Eine schlichte feuerfeste Matratze auf dem Boden, das Bettzeug ohne Knöpfe, abschließbare Toilette, ein milchiges Fenster aus Panzerglas, in der Stahltür eine Durchreiche für Essen und Medikamente, hier kann sie toben, ohne sich selbst, jemanden vom Personal oder einen Mitpatienten zu verletzen. Das ist das Wichtigste, schließlich trägt die Einrichtung Verantwortung für Susanne und all die anderen.
    Marie macht die Tür wieder zu, Susannes Schreie werden leiser und verstummen schließlich ganz, jetzt ist sie im Vandalenzimmer eingesperrt und darf da nach Herzenslust randalieren.
    Auf dem Weg zum Bett fällt Maries Blick auf die Glückwunschkarte, die zerknickt auf dem Fußboden liegt. Sie hebt sie auf, streicht sie glatt und räumt sie auf den Nachttisch ihrer Zimmernachbarin. Neben das Foto von Emma und Johnny, Susannes Kinder. Die Kinder, die sie vor vier Jahren getötet hat, erst mit Schlafmitteln betäubt und dann in der Badewanne ersäuft wie Katzenbabys. Weil eine Stimme es von ihr verlangt hatte, weil es nötig war, um »den großen Plan« zu erfüllen, wie Susanne es manchmal nennt. Auch der nur in Susannes Kopf, dieser große Plan, dem sie sogar ihre eigenen Kinder geopfert hat, um die Welt vor ihrem Untergang zu bewahren. Weil es eben sein musste, so erklärt sie Marie in ihren verwirrten, schizophrenen Momenten, denn ihre Kinder gehörten zu »denen«, »die« hatten Besitz von ihnen ergriffen. In klaren Momenten weint Susanne, denn dann weiß sie nicht einmal mehr, wer »die« eigentlich sind, für die sie Emma und Johnny umgebracht hat. Und im nächsten Augenblick vergleicht sie sich selbst mit Abraham. Mit dem Unterschied, dass sie nicht verschont wurde, dass da kein Engel aufgetaucht ist, um die Kindstötung im letzten Moment zu verhindern.
    Emma und Johnny, auf dem Bild sind sie acht und fünf, und so werden sie es in Susannes Erinnerung auch immer bleiben, die meiste Zeit leben sie sogar noch, und Susanne will zu ihnen nach Hause, hat Heimweh nach ihren Kindern und ihrem alten Leben. Aber sie kommt nicht mehr dahin, nach Hause, denn das gibt es nicht mehr.
    Genauso wenig wie meins, denkt Marie, streicht mit einem Finger über das Plexiglas, hinter dem die Gesichter der zwei Kinder sie anlächeln. Und dann denkt sie an Celia.
    Am Nachmittag ist es Zeit für die Hofrunde. Eine Stunde täglich dürfen die Patienten von Station 5 nach draußen, um dort »frische Luft« zu schnappen. »Käfig« nennen sie den Innenhof, zehnmal zehn Meter groß ist er, dieser Käfig voller Narren. Ein paar von denen, die schon länger hier sind, können manchmal in Begleitung die Klinik verlassen, vereinzelt sogar ohne Aufsicht. Vollzugslockerung, ein bisschen normales Leben führen, zum Zahnarzt gehen, etwas einkaufen, Verwandte oder Bekannte besuchen.
    Aber das ist nur den wenigsten erlaubt, den meisten bleibt pro Tag eben nur diese eine Stunde im Hof. Die Zigarettenpausen nicht mit eingerechnet, die zählen extra, wer sich abmeldet, darf kurz vor die Tür in den abgesperrten Bereich.
    Bevor Marie hier gelandet ist, hat sie nicht geraucht, aber sie hat es sich von den anderen abgeguckt und tut es jetzt mit großer Leidenschaft, als hätte sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes gemacht, als zu qualmen. So wie eigentlich alle Patienten hier quarzen, als würden sie dafür bezahlt. »Wer die Psychiatrie überlebt«, hat Marie neulich zwei Pfleger miteinander scherzen gehört, »stirbt später garantiert an Lungenkrebs.« Das mag sein, durchaus, nur was soll man hier auch
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