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Alle Weihnachtserzählungen

Alle Weihnachtserzählungen

Titel: Alle Weihnachtserzählungen
Autoren: Aufbau
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blickte, daß die Glocke zu schwingen begann. Anfangs schwang sie so sacht, daß sie kaum einen Ton von sich gab, doch bald klang sie ganz laut, und alle Glocken im Haus stimmten ein.
    Das mochte eine halbe oder ganze Minute gedauert haben, aber es schien eine Stunde gewesen zu sein. Die Glocken hörten, wie sie begonnen hatten, gleichzeitig auf. Es folgte ein rasselndes Geräusch tief unten, als ob jemand eine schwere Kette über die Fässer im Keller des Weinhändlers schleppte. Scrooge erinnerte sich, gehört zu haben, daß Geister in Spukhäusern immer Ketten hinter sich herzögen.
    Die Kellertür flog dröhnend auf, und dann hörte er das Geräusch viel lauter, auf den Fluren unten, dann die Treppe herauf- und schließlich direkt auf seine Tür zukommen.
    „Ist doch Unsinn!“ sagte Scrooge. „Ich glaube nicht daran.“
    Trotzdem verfärbte er sich, als „es“, ohne innezuhalten, durch die schwere Tür kam und vor seinen Augen ins Zimmer trat. Bei seinem Eintreten loderte die schwache Flamme auf, als wollte sie rufen: „Ich erkenne Marleys Geist!“, und fiel dann in sich zusammen.
    Dasselbe Gesicht, genau dasselbe. Marley mit seinem Zopf, der gewohnten Weste, den engen Hosen und Stiefeln, deren Quasten ebenso abstanden wie sein Zopf, die Rockschöße und die Haare auf dem Kopf. Die Kette, die er trug, war um seine Taille gewunden. Sie war lang und schlang sich um ihn wie eine Schleppe; sie bestand (Scrooge bemerkte das genau) aus Geldkassetten, Schlüsseln, Vorhängeschlössern, Hauptbüchern, Urkunden und schweren, aus Stahl gearbeiteten Geldbörsen. Sein Körper war durchsichtig, so daß Scrooge, als er ihn betrachtete und durch die Taille hindurchschaute, die beiden Knöpfe hinten am Mantel sehen konnte.
    Scrooge hatte oft die Bemerkung gehört, Marley hätte kein Herz, aber er hatte das bis jetzt nie geglaubt.
    Nein, auch jetzt glaubte er das nicht. Obwohl er durch die Erscheinung hindurchblicken konnte und sie vor sich stehen sah; obwohl er die durchdringende Wirkung seiner todkalten Augen spürte und genau das Gewebe des zusammengelegten Tuches, das um Kopf und Kinn gebunden war, erkennen konnte – diesen Schal hatte er früher nie bemerkt –, war er noch skeptisch und kämpfte gegen seine Sinne an.
    „Was soll das heißen?“ fragte Scrooge, bissig und kalt wie immer. „Was willst du bei mir?“
    „Viel!“ – Marleys Stimme, kein Zweifel.
    „Wer bist du?“
    „Frage mich, wer ich war. “
    „Wer warst du also?“ fragte Scrooge mit lauter werdender Stimme. „Du nimmst es sehr genau für einen Geist.“ Er wollte eigentlich sagen „als Geist“, ersetzte dies aber durch den passenderen Ausdruck.
    „Zu Lebzeiten war ich dein Partner – Jacob Marley.“

    „Kannst du – kannst du dich setzen?“ fragte Scrooge und sah ihn zweifelnd an.
    „Ja.“
    „Dann setz dich.“
    Scrooge stellte diese Frage, weil er nicht wußte, ob ein so durchsichtiger Geist überhaupt in der Lage wäre, sich auf einen Stuhl zu setzen, und fühlte, daß seine mögliche Unfähigkeit eine etwas peinliche Erklärung nötig machen könnte. Doch der Geist nahm auf der gegenüberliegenden Seite des Kamins Platz, als ob er das so gewohnt sei.
    „Du glaubst nicht an mich“, bemerkte der Geist.
    „Nein“, sagte Scrooge.
    „Welchen Beweis für meine Existenz möchtest du haben außer dem, den dir deine Sinne liefern?“
    „Ich weiß nicht“, sagte Scrooge.
    „Warum zweifelst du an deinen Sinnen?“
    „Weil eine Kleinigkeit sie schon beeinträchtigt“, sagte Scrooge. „Eine leichte Magenverstimmung macht sie zu Betrügern. Du kannst ein unverdauter Bissen Rindfleisch, ein Klecks Senf, ein Käsekrümel oder ein Stück nicht gargekochte Kartoffel sein. Dir haftet mehr der Geruch von Speisen als der des Grabes an, was auch immer du bist!“
    Es war nicht Scrooges Gewohnheit, Witze zu reißen, und er fühlte sich auch durchaus nicht zum Scherzen aufgelegt. Die Wahrheit ist, daß er versuchte, forsch zu sein, um seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken und seine Angst zu unterdrücken, denn die Stimme des Gespenstes ging ihm durch Mark und Bein.
    Dazusitzen, in diese starren, glasigen Augen zu sehen und einen Augenblick zu schweigen würde ihm, das spürte Scrooge, den Rest geben. Es lag auch etwas Furchtbares darin, daß das Gespenst von einer unterirdischen Atmosphäre umgeben war. Scrooge konnte sie nicht selbst wahrnehmen, aber es war eindeutig der Fall, denn obwohl der Geist völlig reglos dasaß,
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