Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Wege führen nach Rom

Alle Wege führen nach Rom

Titel: Alle Wege führen nach Rom
Autoren: Adalbert Seipolt
Vom Netzwerk:
knurrenden Magen zur Geduld zu bringen. Aber Bruder Leib, einmal
aufsässig geworden, ließ sich nicht besänftigen, und so biß Annaberta
schließlich schweren Herzens dem päpstlich gesegneten Marzipanschweinchen den
Kopf ab. Bruder Leib hörte jedoch erst zu knurren auf, als er das ganze
Schweinchen und die Peterskirche aus Schokolade dazu verschlungen hatte. Und
nun strahlten die Sterne über Rom. Schwester Annaberta sah freilich nichts von
ihnen; längst war sie eingenickt, auf der Schwelle eines alten Hauses in
Trastevere. Von zahlreichen Kirchen und Kapellen läuteten Glöckchen; ab und zu
schreckte sie das ferne Gebimmel der Straßenbahn oder der Fluch eines
betrunkenen Nachkommen der heiligen Märtyrer auf. War es schon Mitternacht, als
sie der Hunger endlich weckte? Sie wußte es nicht. Kühl strich der Wind durch
die Gassen. Irgendwo quietschte eine Fiedel und dröhnte ein Bretterboden unter
stampfenden Füßen. Noch nie war die gute Schwester unter zwei Millionen
Menschen, doch auch noch nie so allein gewesen. Und darum weinte sie.
    Auf einmal sprang etwas in ihren Schoß: etwas
Warmes, Lebendiges, und wühlte sich schutzsuchend in die Falten ihres Gewandes.
Ein Kätzchen!

    Getröstet durch das zutrauliche Gebaren des
Tieres, wollte ihm Annaberta das weiche Fell streicheln und die Pfötchen in
ihre Hände schließen, als sie plötzlich der grelle Strahl einer Taschenlampe
anfiel und eine Stimme zornige Worte rief, die wohl bedeuten mochten: »Her mit der
Katze!« Das Kätzchen schien es jedenfalls so aufzufassen, es miaute
gottserbärmlich und wühlte sich immer tiefer in die weiten Falten der
Ordenstracht hinein.
    »Laß die Katze in Ruhe!« befahl Annaberta der
dunklen Gestalt.
    »Ma che, deutsch?« tönte es erstaunt zurück.
    »Ja, Gott sei Dank — Sie auch?« Schwester Annaberta
erhob sich vor lauter Freude, dabei plumpste das Kätzchen zu Boden und nahm
schleunigst Reißaus.
    »Nix, nix«, sagte der Mann. »Ich gewesen viel
Jahre arbeiten in Germania. Ich hassen alle Deutsche, ich sie umbringen wollen
— wie Katze! Wo ist Katze? Hergeben, du!«
    »Die Katze ist fort. Suche sie selbst!«
    »Und was wir essen, morgen? Morgen festo! Und ich
haben zehn kleine Kinder. Zehn kleine Kinder mit großem Hunger. Sooo sehr!« Um
der Schwester die schreiende Not seiner Sprößlinge, die sie um den Festtagsbraten
betrogen hatte, eindringlich zu demonstrieren, trommelte der Mann mit beiden
Fäusten auf seine Bauchhöhle. Eigentlich hätte ihn Annaberta jetzt um den Weg
zum Bahnhof fragen wollen, doch der Gedanke an zehn hungernde Kinder erstickte
jeden Gedanken an ihre eigene Not.
    »Bringe mich zu deinen Kindern«, kommandierte sie
entschlossen. Alle Müdigkeit war verflogen, wie bei einem Geistlichen, der,
mitten aus dem Schlaf gerissen, zu einem Sterbenden eilt.
    Als der Mann erkannte, wie ernst es ihr war, sagte
er kleinlaut, fünf Kinder seien leider bereits gestorben, vor Hunger natürlich.
Annabertas einfältige Seele durchschaute den Gauner noch immer nicht. Laut
klagend über so viel Ungemach, schlug sie die Hände überm Kopf zusammen. Der
Mann sah, daß sie nicht sehr fest auf den Füßen war, bot ihr hilfreich den Arm
und stellte sich als »Gino, der Katzenfänger« vor. Bei der dritten Laterne
machte er ihr weis, von seinen fünf lebenden Kindern befänden sich drei zur
Zeit bei seinen Verwandten auf dem Lande, die Schwester werde also nur zwei
antreffen. >Um so besser,< sagte sich Annaberta, >für fünf hätte das,
was ich in der Tasche trage, doch nicht gereicht.<
    Endlich sagte der Katzenfänger: »Vorsicht, meine
Wohnung!« und schob die Schwester in einen finsteren, feuchten Gang hinein.
Angst beschlich sie. Wie hatte sie nur so dumm sein können, dem Gauner zu
folgen? Wer weiß, was er von ihr wollte! Vielleicht stieß er ihr, im törichten
Wahn, sie trage viel Geld bei sich, seinen Dolch in den Rücken; oder erwürgte sie
wie eine Katze und verscharrte sie dann irgendwo vor den Toren der Stadt —?
    Noch war es nicht so weit: zunächst tat sich ein
gewölbter Raum auf, der Boden aus gestampftem Lehm, die Wände nur spärlich
getüncht, als Rauchfang diente ein enges, vergittertes Fenster, das einzige der
>Wohnung<. So also wohnen die Ausgestoßenen in der Ewigen Stadt!
    Der Strahl der Taschenlampe glitt über den Boden
und fing schließlich einen Buben von fünf oder sechs Jahren ein, der
zusammengerollt wie ein Igel auf einem Haufen alter Katzenfelle lag und
schnarchte. »Palmiro«,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher