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Alle Tage: Roman (German Edition)

Alle Tage: Roman (German Edition)

Titel: Alle Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Terézia Mora
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unbekannte Größe P.

    Eigentlich war bis kurz vor Schluss alles normal. Das Wochenende vor seiner Scheidung verbrachte Abel wie meistens: im Wesentlichen zu Hause. Er fing gegen vier Uhr morgens an, loggte sich ein, durchkämmte die üblichen Quellen nach den üblichen Meldungen, kopierte und überschrieb sie direkt. Am Nachmittag schlief er einige Stunden, erwachte mit dem Sonnenuntergang, ging hinaus auf den Balkon, um ihn sich anzusehen.
    Wenn man in Abel Nemas Wohnung durch die schmale Tür im Dach in den Fußbreit Metallkäfig hinaussteigt, drückt einen der Wind an windigen Tagen bis an die Hauswand zurück. Als würde man fahren, mit einem Haus fahren, so ein Windgefühl ist es, aber natürlich bleibt alles an seinem Platz oder fährt mit, nur dass man es nach einer Weile eventuell wegen der Tränen nicht mehr sieht, die einem auf die Schläfen getrieben werden. Eine Sackgasse, am Rande eines schmalen und verwinkelten Streifens alter Industrieräume an der Ostseite der Bahn gelegen, gibt es in Abels Straße nur auf der einen Seite Häuser. Auf der anderen eine Ziegelsteinmauer, dahinter siebzehn Paar Schienen und dahinter: die Stadt, sich unendlich hinstreckend in einer unendlich flachen Landschaft, die im allgemeinen Dunst verschwindet, bevor sie den Himmel berührt hätte. Ein Land, offen für alles, was kommt: Mensch, Tier, Wetter. An dieser Stelle ist die Bahnschneise am breitesten, die die Stadt verschiedentlich durchschneidet, aber im Wesentlichen in zwei Hälften teilt: in einen eleganteren, reicheren, geordneteren Westen und in die über den Ostausgang des Bahnhofs erreichbare »Insel der Tapferen«: ein ehemaliges Kleinindustriegebiet, in das man, nachdem alles eingegangen war, der Schlachthof, die Bierfabrik, die Mühle, zuerst Nervenkranke, schwer erziehbare Halbwaisen und Alte ansiedelte, dann, in einer kurzen, sogenannten goldenen Zeit versuchte man, sie zu einer exklusiven Wohngegend für junge Snobs auszubauen, bevor man die Gegend endgültig den Gestrandeten überließ, die nicht aufhörten, hierher zu strömen, als hätte ihnen jemand gesagt: nehmt den Ostausgang.
    Am Samstagabend, nach getanem Tageswerk, stand Abel also auf seinem Balkon. Unter ihm, hinter der Ziegelsteinmauer, zogen die Eisenbahnwaggons hin und her wie Kugeln auf einem Abakus. Später, es war schon dunkel, kamen immer mehr Autos in die Sackgasse gefahren, reihten sich dicht an der Mauer auf, bis kein Platz mehr war. Späterkommende wendeten mühselig: das Geräusch sich auf Pflastersteinen drehenden Hartgummis, dazwischen das Klackern der Absätze, die dicht vor den erschrocken aufblitzenden Scheinwerfern die Straße querten. Der Laden am geschlossenen Ende der Sackgasse heißt Klapsmühle, an fünf Tagen der Woche feiern sie dort mit einer scheinbar nie nachlassenden Vehemenz, Arbeit und Feste, Tag für Tag, die Wellen der Drums wie plötzliches Donnern durch die Straße, wenn die Tür auf- und zugeht. Dann wieder, abrupt: Stille.
    Nachdem er eine Weile auf dem dunklen Balkon gestanden war, ging Abel zurück ins einzige Zimmer, das sogenannte skurrile, obwohl es, ein nachträglich und vermutlich illegal ausgebautes Dachgeschoss, nur etwas zerklüftet geraten war. Wer auch immer hatte versucht, alles an Raum herauszuholen, was unter dem Himmel zu haben war, aber nur der tote Raum war mehr geworden: spitze Winkel, unnütze Buchten, in denen sich die Dunkelheit und der Staub sammeln, nicht mehr gebrauchte Dinge, beiseite gestoßen mit dem Fuß, oder die Zugluft weht sie dahin, sie bleiben liegen. Abel sammelte ein paar schwarze Kleidungsstücke aus den Ecken, steckte sie zusammen mit der ergrauten Bettwäsche in einen Rucksack, stieg fünf Etagen zur Straße hinunter, wo er als Einziger nicht auf die Bar zu, sondern von ihr weg ging, nach einem kurzen Slalom zwischen aufgedonnerten halbnackten Fremden rechts abbog und dann noch einmal rechts: zu einer Vierundzwanzigstundenwäscherei. Dort saß er einige Stunden und starrte in ein Bullauge. Drinnen war alles schwarz. Eine Socke mit einer hellgrauen Applikation unter dem Bund fiel immer an dieselbe Stelle zurück. Abel saß ganz hinten im Raum, wo sich das Spülwasser in eine Betonwanne in der Ecke ergoss und durch ein rostiges Eisenrohr abfloss. Wenn er nicht in das sich drehende Schwarz schaute, schaute er sich den trudelnden weißen Schaum an. Später dämmerte es, und er ging nach Hause. In der Sackgasse schwamm er erneut gegen den Strom, diesmal als Einziger nicht von der
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