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Alle Tage: Roman (German Edition)

Alle Tage: Roman (German Edition)

Titel: Alle Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Terézia Mora
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Bar weg, sondern auf sie zu. Später ließ der Lärm draußen nach, er setzte sich vor den Computer. Später läuteten die Glocken zweier naher Kirchen, er zog die Rollos an den Fenstern herunter, damit das Licht den Bildschirm nicht ausblendete. Später – die vier Zahlen in der rechten unteren Ecke des Bildschirms zeigten einen mittleren Nachmittag an, neben einer (scheinbar) rotierenden kleinen Erdkugel stand: unbekannte Zone – klingelte das Telefon.
    Hallo, Mutter.

    Ihr Name ist Mira. Das letzte Mal haben sie sich vor dreizehn Jahren gesehen, kurz bevor sie ihm die Flucht vor der Einberufung ermöglichte. Seitdem telefoniert man einmal im Monat, meistens Sonntagnachmittags.
    Ich rufe dich zurück.
    Gut.
    Sie legt auf. Er ruft zurück. Fragt, wie es ihr gehe.
    Sie sagt, ihr gehe es gut.
    Sie schweigen ein wenig. In der Leitung klackt und piept es, das macht es die ganze Zeit, Klacken und Piepen, eine öffentliche Zelle.
    Er fragt, ob sie auf die Zelle habe warten müssen.
    Sie sagt ja, aber nun würde es besser. Die Nachrichten haben angefangen. Sie hat den Blick auf drei Fernseher hinter Vorhängen.
    Ob es schon dunkel bei ihnen sei.
    Noch nicht ganz.
    Klack, Piep, Klack.
    Hör mal, sagt Mira. Sie müsse ihm etwas sagen. Genauer: etwas korrigieren, das sie ihm früher einmal gesagt habe.
    Neuerdings ruft sie an und korrigiert Sachen. Meine Mutter ist eine Lügnerin. Nicht notorisch. Nur aus Fantasie oder Solidarität. Sie drückt ihr Mitgefühl in Form von Lügen aus. Ja, ich weiß, wovon Sie reden, auch wir hatten Juden in der Familie. Wir hatten nie Juden in der Familie. Ich weiß, sagt Abel. Auch keinen Flugpionier. Keinen Partisanen. Sie selbst wurde nie von einem bösen Professor in eine radioaktive Kammer eingesperrt und war auch nie Zeugin einer Haifischattacke. Ich weiß, sagt Abel, ich weiß.
    Diesmal, sagt sie, ginge es um was anderes. Sie sagt, sie habe Ilia gesehen.
    Wen?
    Deinen Freund Ilia.
    Schweigen.
    Anfangs sagte sie, die Stadt sei im Wesentlichen dieselbe geblieben. Abgesehen davon, was kaputt sei – das Hotel, die Bibliothek, die Post, einige Geschäfte –, sei alles noch, wie es war. Außer den Menschen. Man habe den Eindruck, es gäbe noch mehr von ihnen als vorher, aber als hätte man, ein Wunder oder ein schlechter Scherz, über Nacht die gesamte Bevölkerung ausgetauscht. Überall nur fremde junge Männer. Kommen von den Dörfern. Oder wer weiß woher. Werden neu geboren.
    Es war Krieg, sagt Abel.
    Ja, ich weiß.
    Später fing sie an zu erzählen, sie sehe nun öfter auch Bekannte. Von einigen heiße es zwar, sie seien tot oder in Deutschland, aber sie habe sie gesehen. Ging auf der Straße, trug eine Papiertüte, ich bin mir sicher, das war er, er wohnt bloß nicht mehr da, wo er früher gewohnt hat.
    Ilia, sagt sie, habe sie sogar gesprochen. Leibhaftig. Er sei zu ihr gekommen, er musste eine Weile suchen, weil auch sie nicht mehr dort wohne, wo sie vorher gewohnt habe. Er habe einen Bart gehabt wie ein Mönch.
    Hm, sagt Abel und setzt sich im Stuhl zurecht. Er sagt seiner Mutter, dass Ilia vor einem Jahr für tot erklärt worden sei.
    Ich weiß, sagt Mira. Das war ein Irrtum.
    Pause.
    Und, hat er auch was gesagt?
    Er hat gefragt, wie es mir geht. Dann hat er nach dir gefragt. Ich habe ihm gesagt, wo du jetzt lebst. Da hat er gelacht und hat gesagt: Na, wenn das kein Zufall ist. Er fliege genau dahin, schon morgen. Hörst du? Er könnte morgen schon da sein.
    - - -
    Hallo?
    - - -
    Freust du dich gar nicht? Wir dachten, er sei tot, und jetzt stellt sich heraus, er ist lebendig. Ist das nicht wunderbar?

Gottesurteile
    Manchmal, sagte Ilia, bin ich von Liebe und Hingabe ganz erfüllt. So ganz und gar, dass ich gar nichts anderes mehr bin als diese Liebe und diese Hingabe. Das dauert einige Minuten. Manchmal auch nur Sekunden. Ich tauche auf und sehe: Es waren nur wenige Sekunden. Bevor ich auftauche, sehe ich mich von außen. Ich sehe mich in Ekstase und erkenne es als Pose. In diesem Moment, wenn ich es als Pose erkenne, bin ich von der Hingabe zur Skepsis gewechselt, also vom Glauben zum Nichtglauben. Wenn ich mich in der Skepsis befinde, und das tue ich häufig, erscheine ich mir in meiner vorherigen Hingabe, mit allem, was dazugehört an ganz klar abergläubischen Ritualen, die ich allein oder mit anderen zusammen ausführe, als lächerlich und dumm. Wenn ich im Glauben bin, und auch das bin ich ziemlich häufig, scheine ich mir in meiner Skepsis abscheulich und dumm. Das sind
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