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Alle Tage: Roman (German Edition)

Alle Tage: Roman (German Edition)

Titel: Alle Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Terézia Mora
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meine beiden Zustände. Entweder der eine oder der andere, und manchmal auch beide zusammen.

    Damals, vor fünfzehn, zwanzig Jahren, lebten sie in einer kleinen Stadt in der Nähe dreier Grenzen. Eine Stadt mit Sackbahnhof, Luftlinie etwa gleich weit von den drei nächstgelegenen Hauptstädten entfernt, eine ruhige, dunkle Insel anstelle eines ehemaligen Sumpfgebiets. Das Klima kontinental, der Boden fruchtbar, das Umland, was man hübsch nennt: Hügel, Felder, Wälder, kleine Seen. Vom Bauernstamm gewachsene Lehrer, Richter, Uhrmacher stellten die übliche versnobte Provinzaristokratie, verbissene Gähner in Konzertabonnements. Als gäbe es noch so etwas wie bürgerliches Leben, und sei es noch so eng, umgeben von Diktatur, Atomangst, wirtschaftlichem Niedergang. Gab es ein Theater nur für Gastspiele, ein Hotel, eine Post, ein Reiterstandbild, markierte Wanderwege? Ja. Gotik, Renaissance, Barock, Eklektik, postmoderne Verbrechen? Ja. Gotteshäuser folgender Religionen. Pflasterung, Beleuchtung, Grün. Abels Eltern waren Lehrer, sie von einem Dorf aus der Nähe, er eine Waise aus dem Ausland. Drei von vier Jahreszeiten verbrachte man in der Schule, im Sommer lud Andor Nema Ehefrau Mira und Sohn Abel in ein himmelblaues Auto, und dann fuhr man kreuz und quer, soweit es eben ging.
    Dabei hörte und sang er laut Schlager. Zwischendurch stellte Mira auf Klassik um und fragte, ob man nicht wenigstens ab und zu anhalten könnte, für die eine oder andere Sehenswürdigkeit. Andor stellte meist schon während des Allegro-Satzes den Sender wieder um und raste an allen Kirchen und den meisten Heimatmuseen vorbei. Barbar! schrie Mira gegen Fahrgeräusch, Musik und Ehemanngesang an. Abel auf dem Rücksitz beteiligte sich nicht am Streit der Eltern um Radio und kulturelles Erbe. Er presste das Gesicht an die Seitenscheibe und schaute sich den Himmel an, der sich mal so, mal so drehte und im Übrigen dieselbe Farbe wie das Auto hatte, nur, dass oben die Wolken weiß waren oder wahlweise schwarz, und hier unten von Rost. Was außerdem noch zu sehen war: Vögel und Baumkronen, kahl oder mit Blättern, ganze Städte nur aus Dächern, Schornsteinen, Antennen. Und vor allem: Kondensstreifen. Viele Kondensstreifen. Der Himmel war sehr bevölkert damals. Irgendwann kommt der Punkt, an dem man erbrechen muss.
    Ich habe genug davon, sagte Mira zu ihrem Sohn. Halte dich gefälligst gerade und schau nach vorn.
    Er hielt sich verhältnismäßig gerade, schaute aber nicht nach vorn. Er sah sich weiter die Welt oberhalb der Stirn an, bis die Augen schmerzten, und mit der Übelkeit wurde es auch nicht wesentlich besser.
    Schau her, sagte Mira. Schau uns an. Hier sind wir.
    Das waren, im Wesentlichen, die ersten zwölf Jahre. Himmel, Erde.
    Am letzten Unterrichtstag des dreizehnten Jahres, acht Stunden vor Beginn der Sommerferien, stand Andor Nema früh auf, verließ, darauf achtend, dass er weder seine Frau noch seinen Sohn weckte, die Wohnung und kam nicht mehr wieder.
    Mira und Abel fuhren den ganzen Sommer lang durch das Land und sämtliche in Frage kommenden angrenzenden Länder. Ich habe Menschen getroffen, von denen ich nie vorher etwas gehört habe. Außer: Ich liebe dich und Willst du mich küssen? konnte die Mutter nichts sagen, Abel dolmetschte, fremde Frauen streichelten über sein glänzend gescheiteltes Haar. Dann war der Sommer vorbei, das Geld alle und von Andor keine Spur. Mit dem letzten Tropfen Benzin rollten sie in die Stadt zurück.

    Verflucht soll er sein! Keinen Platz auf Erden soll er finden! Die Früchte sollen ihm in den Händen verschimmeln, Eisen verrosten, Wasser verrotten, Goldklumpen zu Pferdeäpfeln werden, alles, was ihm lieb ist, soll ihm verloren gehen, verhungern soll er, oder noch besser, entehrt und durch eine entstellende Krankheit sterben, oder noch besser, niemals sterben, er soll ewig leben, dieser Bastard! Bastard! Bastard!
    Früher gab es am Ende des Sommers immer diese Woche, in der die Eltern am neuen Stundenplan arbeiteten und Abel Ferien auf dem Dorf, bei Miras Eltern, machte. Eine einsame Woche mit Fröschen in der Brüllhitze. Hühnerhof, aufgeschossener Salat. Im Haus im Gegentakt zum lauten Ticktack der Pendeluhr der pfeifende Atem des Großvaters, und über allem, in seinem eigenen nie abreißenden Rhythmus, die Litanei des großmütterlichen Schimpfes, den sie, ihren tuckernden Hilfsmotor, scheinbar brauchte, um durch die Tage zu kommen. Sie murmelte, klagte, verfluchte: im Grunde alle.
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