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Alle Singen Im Chor

Alle Singen Im Chor

Titel: Alle Singen Im Chor
Autoren: Leena Lehtolainen
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langweiligsten und diensteifrigsten Teil meiner Person zur Geltung. Nach meinem Mitgefühl fragte niemand, und mein Gehirn – das ich immer gern strapaziert hatte – wurde nicht gebraucht.
    Nach zwei Jahren bei der Polizei war mein Lerneifer wieder erwacht. Ich absolvierte kurz hintereinander zwei Führungskurse. Es gab zu wenig Frauen im höheren Dienst, und vielleicht wurde ich ein bisschen schneller befördert als üblich. Darüber zerrissen sich natürlich die neidischen Männer das Maul. Noch mehr schienen sie sich aber daran zu stören, dass ich mit meinem Beruf nicht zufrieden war. Schließlich meldete ich mich zum Jurastudium an, schaffte die Aufnahmeprüfung und hatte endlich das Gefühl, am richtigen Platz zu sein. Rechtsprechung interessierte mich, und mit meinen dreiundzwanzig Jahren glaubte ich zu wissen, was ich von meinem Leben erwartete.
    Während des Studiums hatte ich in den Semesterferien Urlaubsvertretungen bei der Polizei übernommen und war auch sonst gelegentlich eingesprungen, und jetzt, fünf Jahre später, war ich wieder Polizistin. Ich hatte allmählich die Lust am Studium verloren und kam auf die Idee, eine sechsmonatige Vertretung im Gewaltdezernat der Helsinkier Kripo zu übernehmen, zumal ich mich auf Strafrecht spezialisiert hatte. Ich hatte geglaubt, in dem halben Jahr Abstand zum Studium gewinnen und neue Lebensperspektiven entdecken zu können. Aber danach sah es vorläufig nicht aus. Seit ich als Ermittlerin arbeitete, war ich so geschafft, dass ich nach dem Dienst über nichts mehr nachdenken mochte. Stattdessen ging ich ab und zu ein Bier trinken und etwas öfter joggen oder ins Fitnessstudio.
    Obendrein leistete Kinnunen, mein direkter Vorgesetzter, nur zehn Prozent der Arbeit, die er hätte tun sollen. Die restliche Zeit verbrachte er damit, zu trinken oder seinen Kater auszukurieren. Wir mussten seine Aufgaben mit erledigen, was vor allem jetzt im Sommer fast unmöglich war. Die Gelder für Vertretungen waren schon im April ausgeschöpft gewesen, wir waren in der Urlaubszeit hoffnungslos unterbesetzt.
    Im Übrigen war ich längst nicht mehr so kaltschnäuzig, wie ich es früher, zumindest in meinen eigenen Augen, gewesen war, aber das zuzugeben wäre ein großer Fehler gewesen. Meine Kollegen achteten beflissen auf meinen nervlichen Zustand, penibel beobachteten sie, wie ich reagierte, wenn ich die von Erbrochenem und dem Inhalt verätzter Gedärme besudelte Leiche eines Penners untersuchte, der mit Schwefelsäure versetztes Wasser getrunken hatte. Vermutlich ekelten sich die anderen genauso, aber ich durfte nicht grün im Gesicht werden – weil ich eine Frau war. Und ich gab mich natürlich hart und riss hinterher in der Polizeikantine die geschmacklosesten Witze, obwohl ich alle Mühe hatte, mein Hühnerfrikassee herunterzubekommen.
    Gegen mein Äußeres war ich machtlos: Ich sah nun mal aus wie eine Frau. Meine Haare musste ich lang tragen, sonst hätten mir die Locken in allen Richtungen vom Kopf abgestanden. Neben den Männern war ich ein Winzling. An der Körpergröße wäre meine Aufnahme in die Polizeischule beinahe gescheitert, aber einer meiner Bekannten war Arzt und schummelte auf dem Attest die fehlenden fünf Zentimeter dazu. Mein Körper war eine seltsame Mischung aus weiblichen Kurven und männlichen Muskeln. Für eine kleine Frau bin ich stark, und ich kann meine Kräfte so weit einschätzen, dass ich selbst vor gefährlichen Situationen keine Angst habe.
    Jetzt hätte ich allerdings eine Stärkung meines Selbstvertrauens brauchen können, zum Beispiel in Form einer imposanten Polizeiuniform. Alle meine bisherigen Fälle waren mehr oder weniger unpersönlich gewesen. Aber bei den Wörtern «Chor» und «Peltonen» hatten bei mir die Alarmglocken geläutet. Wenn meine bösen Ahnungen mich nicht trogen, würde ich gleich einer Reihe von Bekannten gegenüberstehen, die mich in einer ganz anderen als der Polizistenrolle kennen gelernt hatten.
    Im ersten Semester an der Universität hatte ich in einer ungemütlichen Studentenwohnung draußen im Stadtteil Itäkeskus gewohnt. Meine beiden Mitbewohnerinnen stritten sich ständig, weil die eine dauernd sang. Manchmal johlte ein ganzes Quartett in Jaanas Zimmer, ein Quartett, dessen Bassist Jaanas Freund war: Jukka Peltonen, der Charmeur mit den Paul-Newman-Augen und dem vom Segeln braun gebrannten Gesicht. Jaana hatte nächtelang überlegt, ob sie mit ihm zusammenziehen sollte, ein paar Mal hatte sie das Problem auch
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