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Alle sieben Wellen

Titel: Alle sieben Wellen
Autoren: Daniel Glattauer
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geschicktes Ablenkungsmanöver, eine sinnvolle Beschäftigungstherapie: Nur ja nicht in mich selbst hineinhorchen, nur ja nicht zu viel bei Emmi sein. Jede persönliche E-Mail, jeder innige Gedanke an dich musste sofort mit einer Geste der Verbundenheit zu Pamela entschuldigt und wettgemacht werden. Damit beruhigte ich mein schlechtes Gewissen. Nun, sie ließ sich von meinem Überschuss an Liebesbeteuerungen nicht lange beeindrucken. Bald fühlte sie sich irritiert, überfordert, in die Enge getrieben. Sie benötigte Freiraum, Auslauf, Zuflucht mit Heimvorteil. Da gab es nur einen Ort: Boston. Ich sah darin die einzig verbliebene Chance zur Verwirklichung meiner Illusion.
    Du kennst meine E-Mails. Unser Abtast-Urlaub war gut genug, dass ich mir einbildete, es mit ihr an der US-Ostküste probieren zu wollen. Anfang nächsten Jahres wollten wir »auswandern«, die Weichen waren gestellt, Job und Wohnung in Aussicht. Aber dann, aber dann, aber dann. (...) Ja, dann habe ich ihr von dir erzählt, Emmi.
    Schöne Stunden am Strand! Leo.
     
    Acht Stunden später
    RE:
    Warum hast du ihr von mir erzählt?
    Hi Leo, übrigens. Du hast ja hoffentlich nicht ernsthaft angenommen, dass ich dich jetzt eine Woche ohne meine Zwischentöne melodramatische »Pam«-Phasen-Analysen ausbreiten lasse, damit dir nachträglich wieder für Monate die Luft ausgeht. Apropos Luft: Ich befinde mich gerade in einem wunderschön schwarzwandigen, sorgsam verdunkelten, mit Death Metal beschallten, etwa drei Quadratmeter großen Internet-Gruft-Café für die durchgepiercte Nachfolgegeneration der kroatischen No-Future-Bewegung, einem Lokal, in dem man als Passivraucher in fünf Minuten mehr inhaliert als ein durchschnittlicher Kettenraucher in einer Stunde. In meinem Zustand einer nihilistisch illuminierten Schwade klingen deine nachträglichen »Pam«-Betrachtungen deshalb besonders bizarr. Also komm, setze ungeniert fort! Warum hast du ihr von mir erzählt? Was war danach? Und wie geht jetzt alles weiter? An einem der nächsten Nachmittage hole ich mir in dieser guten Internet-Stube deine Aufzeichnungen ab, sofern meine Lunge inzwischen nicht durchgebrannt ist. Küsschen, Emmi. PS (ganz klassisch): Ich freu mich auf ein Wiedersehen!
     
    Einen Tag später
    Betreff: Berührungspunkt
    Liebe Emmi, schön, dich in derart bestechender Form zu erleben. Die kroatische Meeres- und Gruft-Luft tut deiner feinfühligen Ader offenbar besonders gut.
    1.) Warum ich Pam, also Pamela, von dir erzählt habe? – Ich musste es. Es gab einen Punkt, an dem ich nicht anders konnte. Es war DEIN Punkt, Emmi! Von mir einmal so beschrieben und bestimmt: »Auf der Innenseite meiner linken Hand, etwa in der Mitte, wo die Lebenslinie von dicken Faltenbögen durchkreuzt Richtung Pulsader abbiegt.« Das ist die Stelle, an der du mich bei unserem zweiten Treffen unabsichtlich berührthast. Sie blieb mein ultimativer Emmi-Empfindungspunkt, prolongiert für alle Ewigkeit.
    Monate später, bei unserem berühmten Fünf-Minuten-Treffen am Abend vor Pamelas Ankunft, hast du mir dann dein »Erinnerungsstück«, dein »Geschenk« hinterlassen. Warst du dir der Tragweite dieser Geste bewusst? Ahntest du, was du damit anrichten würdest? »Psst!«, hast du geflüstert. »Nichts dazu sagen, Leo! Gar nichts sagen!« Du hast meine linke Hand genommen, hast sie zu deinem Mund geführt und hast unseren Berührungspunkt geküsst. Mit dem Daumen hast du noch einmal sanft darübergerieben. Deine Abschiedsworte: »Tschüss, Leo. Mach’s gut. Vergiss mich nicht!« Und die Tür war zu. Hunderte Male habe ich diese Szene nachgespielt, tausendmal deinen Kuss auf den Punkt nachempfunden. Da es nicht gerade zu meinen Stärken zählt, sexuelle Erregungszustände zu beschreiben, lasse ich jetzt besser dahingestellt, wie es mir dabei ergangen ist.
    Jedenfalls war es mir nicht mehr möglich, mit Pamela intim zu sein, ohne deinen Punkt zu spüren und ohne dabei an dich zu denken und dich zu fühlen, Emmi. Damit war meine groß hinausposaunte Betrugstheorie über den Haufen geworfen. Erinnerst du dich an die Worte, die ich dir schrieb? – »Meine Gefühle zu dir nehmen jenen zu ihr nichts weg. Sie haben nichts miteinander zu tun. Sie treten nicht in Konkurrenz zueinander.« Unsinn! Unhaltbar! Von der Wirklichkeit überholt. Von einem einzigen Pünktchen widerlegt. Lange Zeit wollte ich nicht wahrhaben, dass sich meine linke Hand mehr und mehr Pamelas Körper entzog, wollte nicht sehen, welche Abwehrhaltung
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