Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Orte, die man knicken kann

Alle Orte, die man knicken kann

Titel: Alle Orte, die man knicken kann
Autoren: Dietmar Bittrich
Vom Netzwerk:
Whale Watching statt, kombiniert mit modernen Fangtechniken und hocheffizientenSchlachtmethoden. Wer Interesse an Kauf oder Import zeigt, darf gegen eine Anzahlung mit an Bord.
    Das Schönste an Island seien die Ortsnamen, notierte der Lokalhistoriker Jón Árnason. Tatsächlich ist am Lavafeld Öndverdarnes der Name exotischer als der Schlackenboden, doch mittlerweile gilt auch die Häufigkeit von Achsenbrüchen und Bandscheibenvorfällen beim Durchqueren auf der Schotterpiste als rühmenswert. Auch schön: Die Bucht Skardsvik, die dabei berührt wird, schaffte es vor dreißig Jahren erstmals unter die Top 100 der «List of Suicide Sites», also der weltweit beliebtesten Freitodplätze. Es gibt noch spektakulärere auf Island, wo eine eigene Top 40 geführt wird. Überall, wo ein Wasserfall tiefer als drei Meter stürzt, wo ein Geysir sich aus dem Boden wagt oder eine Erdspalte gähnt, finden sich jedes Jahr ausreichend Einheimische und neuerdings auch Touristen, welche die berechtigte Hoffnung hegen, durch einen beherzten Sprung in eine schönere Welt zu gelangen. Von den alten Balken der Kirche von Thingeyrar baumeln traditionell Stricke, die allerdings nicht alle als reißfest gelten (vor Gebrauch durch Begleiter testen lassen!). Im ganz und gar der Torfbauweise geweihten Glaumbær-Museum bei Varmahlid laden Haufen braunen Abraums zum Eingraben ein. Am Godafoss-Wasserfall führt eine Treppe eigens zur Einsprungstelle oberhalb der Abbruchkante. Und auf den Solfatarenfeldern am Námafjall ist am aufsteigenden Dampf zu erkennen, wo der Wechsel in einen höheren Aggregatzustand möglich ist. Die Schwefelschwaden der blubbernden Schlammlöcher hat frühe Missionare zu der Vermutung veranlasst, von allen Ländern sei Island der Hölle am nächsten. Diese Annahme gilt bis heute als unwiderlegt.
    Die fliehenden Menschenscharen unterhalb des Vatnajökull-Gletschers nehmen jedenfalls Reißaus vor einer der untrüglichen Begleiterscheinungen des Teufels: vor schwarzen Schwärmen boshafterInsekten. Hier, am als Highlight gepriesenen Myvatn (wörtlich: Mückensee), findet sich die auf der Nordhalbkugel größte spezifische Dichte an Stechmückenwolken. Gegen die Insektenheere verteilen Reiseleiter Netze, die so dicht gewirkt sind, dass die Insekten nicht hinein- und die so Bekleideten nicht hinaussehen können; sie halten Himmel, See und Gletscher gleichermaßen für tiefschwarz.
    Gegen Insekten hilft jedoch auch die vorbeugende Einnahme von Hákarl. Die abschreckendste Variante dieser Spezialität wird nicht weit vom Myvatn entfernt in Bjarnarhöfn hergestellt. Hákarl ist das verrottete Fleisch des Grönlandhais. In frischem Zustand ist das Fleisch erstaunlicherweise noch ungenießbarer als vermodert. Denn der Hai reichert Harnstoff an und darf wegen der Ammoniumdünste nur von Männern in Schutzanzügen mit Atemmasken verarbeitet werden. Selbst nach dem Ausnehmen, Entgräten, mehrmaligen Waschen und Wässern muss das Haifleisch fürs Erste vergraben werden, am liebsten in grobem Kies, der die schlimmsten Säfte herauspressen soll. Nach sieben Wochen wird das flachgepresste Fleisch in den eisigen Wind gehängt, bis man sich nach einem halben Jahr bis auf zwei Meter nähern kann. Nun wird er mit langen Haken an Hunde verfüttert, allerdings nur an solche, die der Besitzer loswerden will, und natürlich an Touristen, denen so sorgsam Verwestes als Landesspezialität angedreht wird, meist in Tateinheit mit der Darreichung selbstgebrannten Fusels. Der Vorteil: Diese Touristen haben von den Mücken am Myvatn nichts mehr zu befürchten. Sie sind daran zu erkennen, dass um sie herum die Luft rein von Mücken ist, ja, dass alles Leben um sie herum welkt und erlischt.
    Der berühmteste Flüchtling der Insel, den im Umkreis all der Mückenseen und Teufelslöcher die Geduld verließ, war Gott selbst. Damals wurde er noch Odin genannt. Er war, so erzähltder Mythos, die Insel in wachsendem Unmut abgeritten, war mit seinem achtbeinigen Ross über die jämmerliche Vulkanspalte Leihrnjúkur gesprungen, bei der heute die Reisebusse parken – in einiger Entfernung, denn den abenteuerlichen Schwefelgestank müssen die Busfahrer nicht mehr haben, den sollen die Touris allein wegatmen   –, dann war Gott zu den trostlosen Ausläufern der Vulkane Kverkfjöll oder Bárðarbunga gelangt, hatte vergeblich nach der Tankstelle und dem Supermarkt Ausschau gehalten, die es heute hier gibt, hatte nicht mal einen Golfplatz orten können, lediglich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher