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Alle auf Anfang - Roman

Alle auf Anfang - Roman

Titel: Alle auf Anfang - Roman
Autoren: Sabine Zaplin
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versucht, sich Claudia im Rollstuhl vorzustellen. Sich selber, wie er den Rollstuhl durch die Stadt schiebt. Er sieht Pfleger, Pflegebett, Salben gegen das Wundsitzen. Sanatorien und Sitzbäder. Eine weiße Klinikwelt. Eine eiskalte Abhängigkeit. Das kannst du genauso wenig von mir verlangen, will er sagen und sagt es nicht. Das, was er damals verlangt hat, war unendlich mehr. Und? Konnte sie es? Ebenso wenig wie er.
    »Wer bestimmt hier, Anselm?«, fragt sie und zieht ihre Hand aus seiner. »Bist du es? Oder ich? Oder gar: das Schicksal?« Die letzten beiden Worte spricht sie übertrieben pathetisch aus. In seinem Rücken spürt Anselm die Blicke der Frauen.
    »Sag was«, fordert Claudia. Anselm wird heiß. Er rutscht auf dem Stuhl hin und her. Zwanzig Jahre. Hat er irgendetwas bestimmen können in dieser Zeit?
    »So ein schön fester grauer Himmel«, stößt er aus, und die Worte Woyzecks stehen vor ihm, er braucht sie nur zu pflücken, wie damals, »man könnte Lust bekomm, ein Klobe hineinzuschlage und sich daran zu hänge, nur wege des Gedankestrichels zwischen ja und nein …«
    Claudia versucht, sich aufzurichten. Es gelingt ihr nicht. So hebt sie im Liegen die Hände und schlägt sie gegeneinander. »Bravo, Herr Schauspieler! Was haben wir noch drauf? Habe nun, ach, Philosophie … Oder: Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage. Oder vielleicht: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen? Oder zur Abwechslung ruhig auch mal was Komisches? Komm, gib mir eine Vorstellung, spiel mir was vor, los, komm!«
    Inzwischen haben ihre Lippen die Farbe ihres Gesichtes angenommen. Fast durchsichtig wirken sie.
    »Du bestimmst nicht, Claudia«, sagt Anselm, »und ich auch nicht. Haben wir das nicht damals schon kapiert? Wir spielen bloß, und wenn wir gut sind, haben wir zwei, drei Stunden lang etwas in der Hand. Mehr nicht.«
    »Warum wolltest du mich wiedersehen, Anselm?«
    Er zögert. Hat doch auf dem Weg hierher noch ein Family-Spiel entworfen, mit sich und Claudia im Zentrum des Feldes. Er hat es sich vorstellen können, im Auto. Ehe er wusste, was ihn hier erwartet.
    »Um weiterzuspielen«, sagt er und hasst sich dafür. Aber es stimmt.
    Es klopft. Der Mann und das Kind kommen zurück. Der Mann versucht, ihn nicht anzusehen. Er bleibt am Fußende des Bettes stehen, das Kind neben ihm betrachtet Anselm vollkommen ungeniert.
    »Claudia«, sagt der Mann, »Lämmchen. Wir haben noch so viel vor. Die Mitternachtssonne.«
    Anselm steht auf. Ohne sich weiter um den Mann und das Kind zu kümmern, beugt er sich vor und gibt Claudia einen langen Kuss auf die bleichen Lippen. Sie sind kalt wie ihre Finger.
    »Wir sind quitt«, flüstert er, »Gleichstand. Besser, wir hören hier auf.«
    Ihm wird übel. So schnell er kann, stürzt er aus dem Zimmer.
»… nur wege des Gedankestrichels zwische ja und nein …«
    Der Requisiteur saß nach der Generalprobe in seiner Kammer und trank eine Tasse Tee. Er war stark erkältet. Er ließ sich erklären, was noch zu ändern war bis morgen. Das Messer, mit dem Woyzeck seine Marie erstechen sollte, war zu deutlich als Kunststoffmesser erkennbar. »Und wenn wir ihm doch ein echtes geben?«, fragte der Requisiteur mit näselnder Stimme, »er wird sie doch nicht abstechen damit.«
    »Aber wir haben es jetzt mit der Attrappe probiert«, entgegnete Claudia, »Anna dreht sonst durch.«
    »Ich überlege mir was bis morgen«, näselte der Requisiteur und nieste kräftig.
    »Geh heim«, schlug Claudia vor, »ich richte das hier allein her.« Sie deutete auf die Kiste mit den Requisiten. Erst wollte der Requisiteur noch ablehnen, doch nach drei weiteren kräftigen Niesanfällen ließ er sich überzeugen und ging heim. Claudia trug die Kiste auf die Hinterbühne und sortierte dort im Arbeitslicht alles durch. Auf der Bühne waren noch einige Techniker mit letzten Handgriffen beschäftigt. Rufe flogen hin und her, Hammerschläge, kreischende Bohrmaschinen fügten sich zum schrägen Orchester. Scheinwerfer wurden herabgelassen, umgehängt und wieder nach oben gezogen. Es roch nach Staub, Schminke und Farbe. Frank und der Bühnenbildner überquerten die Bühne, schoben hier etwas zur Seite, deuteten dort auf einen Scheinwerfer über ihnen, der dann ebenfalls noch umgehängt wurde. Schließlich kam Frank auf die Hinterbühne. »Mach Schluss für heute«, empfahl er Claudia, »das geht doch morgen auch noch. Ich bin ab vier im Haus.«
    »Ich mache es gerne jetzt in Ruhe, wenn alle weg
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