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Alicia II

Alicia II

Titel: Alicia II
Autoren: Robert Thurston
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die ich an sie aus meiner Kinderzeit habe, einfach nicht traue. Alicia sah ich an meinem ersten Tag in Spa. Ich hatte mich, erschöpft vom Sonnenschein, zusammengeschrumpft von einem kurzen Morgenspaziergang, auf einem sackenden Faltstuhl auf einer sackenden Veranda niedergelassen und beobachtete sie von diesem günstigen Aussichtspunkt aus. Doch ich verspürte nur flüchtige Neugier, ähnlich wie die der Leute, die den hiesigen Zoo besuchten. Da sahen sie mit aufgerissenen Augen und Mündern durch Gitterstäbe, und die Gegenstände ihrer hingerissenen Bewunderung waren Hologramme afrikanischer Tiere, von denen viele bereits ausgestorben waren. Diese Leute waren im Gegensatz zu mir nie in einem richtigen Zoo gewesen. Die hohl wirkenden Geschöpfe in den Käfigen erweckten in ihnen keine Assoziationen zu Gefühlen oder Gedanken, zu Ängsten oder Gerüchen. (In einem Museum erkennen wir ein Gemälde erst dann richtig, wenn wir etwas von dem Schmerz oder der Freude in den Pinselstrichen nachempfinden, wenn uns ein schwieriges Konzept klar wird – aber das ist eine andere Art von Zoo.) Ich saß niedrig auf meinem wackeligen Stuhl und studierte das Verhalten des am Strand spielenden Kindes.
    Noch unsicher mit den Fäden meines neuen Körpers verbunden, war ich beeindruckt von ihren ungezwungenen Bewegungen und beneidete sie um ihr glückliches Behagen.
    Ich kommentierte für mich selbst die Anmut ihrer Gesten, ich hielt den Atem an, als sie in plötzlicher Tollkühnheit einen planschenden Angriff auf das Meer unternahm. Sie sprang und floh und tanzte. Einmal fiel sie und quetschte ein paar Tränen in dem (vergeblichen) Versuch hervor, dem Mann mit dem erstarrten Gesicht, der ihr Vater war, irgendeine Reaktion zu entlocken. Er aber blickte auf etwas anderes. Meine Hand machte eine unwillkürliche Bewegung in ihre Richtung – ein unwirksamer Versuch, ihre Tränen zu trocknen.
    Vielleicht verliebte ich mich in Alicia, als ich müßig und erschöpft auf diesem Stühlchen hockte und ihre Bewegungsabläufe beobachtete. Ich sah ein schönes Kind und ließ sie vor meinem geistigen Auge zu der schönen Frau heranwachsen, die sie werden würde (und wurde). Das mag verrückt gewesen sein, aber es waren für einen Rekonvaleszenten typische Phantasien.
    Als ich später offiziell um die Erlaubnis bat, ihr Spielgefährte werden zu dürfen, reagierte ihr Vater kaum. Vielleicht sah er, daß ich zu schwach war, um irregeleitete Motive zu haben.
    Ohne jede Gefühlsregung übergab er sie mir wie dem Kesselflicker eine Münze.
    Sie nannte mich Onkel Vossilyev und nahm mich ins Schlepptau, nur um auf Kosten meiner Unbeholfenheit ihre Anmut zur Schau zu stellen. »Mach das noch mal, Onkel Vi!« rief sie, wenn ich hilflos am Boden saß und darauf wartete, daß mein Körper sich zur Kooperation bereitfand.
    Da ich den Befehl hatte, mich den größten Teil des Tages auszuruhen, spielten wir meistens bei Sonnenuntergang, wenn die Strahlen der roten Sonne dem Öl, den Algen und dem auf der Wasseroberfläche angesammelten Abfall Myriaden von scharfen und stumpfen Lichtern entlockten. Manchmal machte das Gleißen mich buchstäblich blind, und dann sandte ich voll Hoffnung, es sei nicht etwa eine aufgepfropfte Synapse auf die Wanderschaft gegangen, eine hastige Botschaft an meine Augen. Diese gewährten mir widerstrebend ein verwischtes Bild. Langsam – nur um mich zu ärgern, um sich ein bißchen Unabhängigkeit von dem Eindringling in diesem Körper zu bewahren – ließen sie es dann schärfer werden. Manchmal leisteten meine Lungen nervenaufreibenden Widerstand und jagten mir stechende Schmerzen durch den Brustkorb, wenn ich nach der benötigten Luft rang. Manchmal befehdeten sich meine Glieder gegenseitig in dem Wettstreit, welches mich am meisten in Verlegenheit bringen könne.
    Abends suchten wir nach Muscheln, fanden aber nur wenige.
    Schließlich war der Strand von den letzten Strandläufern abgekämmt worden, bevor sie ihn gegen künstlichen Ersatz – die Plaststrände – eintauschten. Dort wurden sie bezahlte Strandwärter und waren ebenso falsch wie das Terrain, das sie abpatrouillierten. Nun ja, wer war ich, daß ich die Nase über ein solches Leben rümpfte? Es war natürlich eins der besseren Paradiese, die die Ausgemusterten in den wenigen ihnen zugestandenen Jahren suchten, bevor sie sich vor der Erneuerungskammer anstellten. Ich mußte an die lange Reihe von Ausgemusterten denken, die ich in meiner ersten Lebensspanne gesehen
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