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Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt

Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt

Titel: Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
Autoren: Mohammed Hanif
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ihn presste. Und wenn er diese auf Zainabs Augen spritzen würde, bekäme sie ihr Augenlicht zurück. Doch als er den Plastikkolben in die Spritze drückte, trat nur eine bräunliche Schmiere zutage. Von da an spielte Noor nie mehr mit der Spritze.
    Noor zieht Zainab das Laken übers Gesicht und geht hinaus. Er hat sich immer gefragt, was er empfinden würde, was er tun würde, wohin er gehen würde. Jetzt weiß er es. Er muss ins Büro des Rechtsmediziners, um einen Totenschein ausstellen zu lassen, die Leichenhalle informieren und einen Platz im Bestattungsbus reservieren. Er weiß nicht genau, warum er den Totenschein braucht, aber er geht die Stufen zum Hof mit einer klaren Entschlossenheit hinunter, denn er weiß, dass dieser Schein das Einzige ist, was er im Moment braucht.
    Er sieht Alice Bhatti unter dem Old Doctor und winkt ihr zu. Er weiß nicht, warum er winkt. Grüßt er sie? Nein, es soll heißen: Hallo, Alice, meine Mutter ist tot. Aber Alice sieht ihn nicht an. Ihr Blick ist nach oben auf einen Punkt über dem Dach gerichtet. Nun erkennt er, dass alle Patienten unter dem Old Doctor ebenfalls zum Himmel schauen. Er dreht sich, um ihren Blicken zu folgen, und stößt mit jemandem zusammen, ohne sein Gesicht zu sehen. Das Einzige, an das er sich erinnern wird, ist, dass der Mann einen Arm in Gips hatte und einen kleinen Jutebeutel bei sich trug.
    Teddy Butt gelingt es gerade noch, den Fall der Flasche aufzuhalten. „Bist du blind?“, schnauzt er den Jungen an, der ihn gerammt hat und ohne Entschuldigung weitergeeilt ist. Er sieht Alice Bhatti in ihrem weißen Kittel unter dem Old Doctor stehen. Scheinbar alles um sich herum vergessend, schaut sie in den Himmel. Teddy geht weiter und stolpert erneut. Diesmal liegt es an der Bettlerin ohne Beine auf ihrem Skateboard, die sich an sein rechtes Bein klammert. „Gott hat dich mit einer so schönen Frau gesegnet, kauf mir doch ein bisschen Xanax. Die Nächte werden länger.“ Teddy wühlt in der Hosentasche nach Kleingeld und fragt sich, warum alle zum Himmel schauen.

Epilog
    Offener Brief an die Kongregation für
    die Selig- und Heiligsprechungsprozesse
    Vatikan
    Von Joseph Bhatti
    French Colony
    Letztes Jahr ist an einem strahlenden Sommerabend Unsere Liebe Frau über dem Dach der Ambulanz des Herz Jesu Krankenhauses erschienen, nachdem man die Tore geschlossen hatte, da man keine Patienten mehr aufnehmen konnte. Die Bewohner und Mitarbeiter des Krankenhauses erkannten die Heilige Jungfrau anfangs nicht, da ihr Gesicht mit einem Schleier verhüllt war und der Säugling in ihren Armen Zeter und Mordio schrie. Die Zuschauer waren völlig gebannt von einem Lichtstrahl, der auf die Ambulanz fiel und das Gebäude in milchigen Glanz tauchte. Es war ein Stationsjunge, der seit Längerem im Herz Jesu lebt, Noor, der Sohn von Zainab, der feststellte, dass der Himmel klar, aber kein Mond zu sehen gewesen sei. Und dann gewahrten einige einen silbernen Thron über dem Dach, gestützt von einem Schwarm Pfauen, auf dem ein Abbild Unserer Heiligen Mutter Gottes saß.
    Und diese Heilige Mutter Gottes winkte meine einzige Tochter Alice Bhatti zu sich, damit sie zu ihr auf den Thron käme.
    So musste meine Tochter die Schmerzen nicht erdulden, die ihr entfremdeter Ehemann ihr zugedacht hatte, indem er ihr engelsgleiches Antlitz mit einem halben Liter Salzsäure übergoss. Stattdessen ist meine Alice mit der Heiligen Mutter Gottes in den Himmel aufgefahren. Der Thron, der sie hinwegheben sollte, war bereits eingetroffen. Aus diesem Grund bemerkte keiner in ihrer Umgebung, wie ihr Peiniger sich näherte und, seine ewige Liebe zu ihr bekennend, die Säureflasche aufschraubte. Alle schauten hinauf zum Himmel, berauscht vom Anblick der Heiligen Mutter Gottes auf ihrem Thron.
    Wie es in solchen Fällen üblich ist, erkannten die Menschen die himmlischen Zeichen anfangs nicht und konzentrierten sich zunächst auf kleinere Unstimmigkeiten, unbedeutende Abweichungen, unmaßgebliche Störungen. Ein Röntgenapparat rollte durch die Gänge der Orthopädiestation, kam am Rand der Treppe zum Stehen, fuhr seine mechanischen Hebel aus und surrte, als würde er, angetrieben von einer unsichtbaren Macht, Aufnahmen für die Nachwelt machen. Auf der Intensivstation riss sich ein Patient die Sauerstoffmaske vom Gesicht, stand auf und beklagte sich, ihm würde schwindlig von dem starken Rosenduft. Auf der allgemeinmedizinischen Station verwandelte sich Infusionsflüssigkeit in Milch. Das
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