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Alibi für einen König

Alibi für einen König

Titel: Alibi für einen König
Autoren: Josephine Tey
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Mannes um Fünfunddreißig, hager und glatt rasiert. Der Kragen war reich mit Juwelen bestickt, und der Mann steckte gerade einen Ring an den kleinen Finger der rechten Hand. Aber er beachtete den Ring nicht, sondern er blickte ins Leere.
    Von allen Porträts, die Grant an diesem Nachmittag gesehen hatte, war dies am meisten ausgeprägt. Es schien, als hätte der Künstler etwas auf der Leinwand festhalten wollen, was über sein Talent ging. Den Ausdruck der Augen – diesen faszinierendsten und persönlichsten Ausdruck – hatte er nicht wiederzugeben vermocht. Auch den Mund nicht. Es war ihm nicht gelungen, diesen schmallippigen und doch sehr breiten Mund lebendig wirken zu lassen, und deshalb wirkte er hölzern und ungekonnt. Am besten war ihm die Struktur des Gesichts geglückt: die starken Backenknochen und die eingefallenen Wangen darunter, das Kinn, das zu lang war, um kraftvoll zu sein.
    Grant wartete einen Augenblick, ehe er das Blatt umwandte, und betrachtete das Gesicht noch einmal gründlich. Ein Richter? Ein Krieger? Ein Fürst? Ein Mensch, der an große Verantwortung gewöhnt war und diese Verantwortung ernst nahm? Ein übergewissenhafter Mensch, ein Grübler, vielleicht ein Perfektionist. Ein Mann, der in großen Dingen frei verfügte, in kleinen Dingen aber ängstlich war. Ein Anwärter auf Magengeschwüre. Überdies ein Mensch, der als Kind gekränkelt hatte; er zeigte jenen verschlossenen, nicht näher fixierbaren Ausdruck, den das Leiden der Kindheit zurückläßt und der nicht so deutlich ist wie der Ausdruck im Gesicht eines Krüppels, aber ebenso unübersehbar. Dies hatte der Künstler begriffen und auch in sein Bild übertragen können. Da waren die ein wenig geschwollenen unteren Augenlider eines Kindes, das keinen guten Schlaf hat. Da war diese eigenartige Beschaffenheit der Haut, der greisenhafte Ausdruck in einem jungen Gesicht.
    Er wandte das Porträt um.
    Auf der Rückseite stand: »Richard III. Nach dem Porträt in der National Portrait Gallery. Künstler unbekannt.«
    Richard der Dritte.
    Der also war es. Richard III.! Der Bucklige. Der Unhold der Kinderbücher. Der Zerstörer der Unschuld. Der Inbegriff der Schurkerei.
    Er drehte das Blatt wieder um und betrachtete es noch einmal. Hatte der Künstler das ausdrücken wollen, als er diese Augen malte? Hatte er darin den Blick eines von den Furien gehetzten Menschen gesehen?
    Lange Zeit betrachtete Grant dies Gesicht, die ungewöhnlichen Augen. Es waren langgeschnittene Augen, die dicht unter den Brauen saßen, diese wiederum leicht zusammengezogen zu einem besorgten, übergewissenhaften Stirnrunzeln. Auf den ersten Blick wirkten sie forschend, aber je länger man sie betrachtete, desto deutlicher merkte man, daß sie in Wirklichkeit nach innen gewandt waren, beinah abwesend.
    Als die Zwergin die leere Teetasse holen wollte, starrte er noch immer auf das Porträt. Seit Jahren hatte er nichts dergleichen gesehen. Die Mona Lisa wirkte daneben wie ein Plakat.
    Die Zwergin betrachtete mißbilligend die unberührte Teetasse, befühlte mit geübter Hand die lauwarme Teekanne. Sie gab ihm zu verstehen, daß sie anderes zu tun hatte, als ihm den Tee zu bringen, den er einfach stehen ließ.
    Er hielt ihr das Porträt unter die Nase.
    Was sie davon halte? Welche Diagnose sie stellen würde, wenn dieser Mann ihr Patient wäre?
    »Leber«, sagte sie barsch und entschwand auf erzürnt klappernden Absätzen, ganz Stärke und blonde Löckchen, mit dem Teetablett.
    Aber der Chirurg, der kurz darauf, freundlich und unpersönlich, hereinkam, war anderer Meinung. Er kam der Aufforderung, das Porträt zu betrachten, liebenswürdig nach, und sagte nach einem Augenblick aufmerksamer Betrachtung:
    »Poliomyelitis.«
    »Kinderlähmung?« fragte Grant. Und plötzlich fiel ihm ein, daß Richard III. einen verkümmerten Arm hatte.
    »Wer ist es?« fragte der Chirurg.
    »Richard III.«
    »Ach nein! Das ist aber interessant.«
    »Wußten Sie, daß er einen verkümmerten Arm hatte?«
    »Hatte er das? Daran entsinne ich mich nicht. Ich dachte, er sei bucklig gewesen.«
    »Das war er auch.«
    »Ich erinnere mich nur, daß er mit all seinen Zähnen geboren wurde und lebende Frösche verspeiste. Nun, meine Diagnose scheint aber seltsamerweise genau zu stimmen.«
    »Sie war genial. Wie kamen Sie auf Kinderlähmung?«
    »Jetzt, wo sie mich präzis fragen, weiß ich es eigentlich nicht. Wahrscheinlich brachte mich der Gesichtsausdruck darauf. Es ist der Ausdruck, den man im
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