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Alibi für einen König

Alibi für einen König

Titel: Alibi für einen König
Autoren: Josephine Tey
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Bosworth schrieb? Was in ihren Annalen verzeichnet steht?«
    »Nein.«
    »Sie schrieb: ›Heute ward unser guter König Richard schändlich erschlagen und ermordet, zum großen Schmerz dieser Stadt!‹«
    Der Lärm der Sperlinge zerriß die Stille.
    »Nicht gerade der Nachruf auf einen verhaßten Usurpator«, bemerkte Grant nach einiger Zeit sehr bitter.
    »Nein«, sagte Carradine. »Nein. ›Zum größten Schmerz dieser Stadt‹«, wiederholte er langsam, jedes Wort auskostend. »Der Kummer war so groß, daß die Leute von York, obgleich ein neues Regime bevorstand und die Zukunft noch im dunkeln lag, ihre Auffassung, es sei Mord gewesen, und ihren Kummer darüber schwarz auf weiß in den Stadtannalen festhielten.«
    »Vielleicht hatten sie gerade erfahren, wie schändlich man den Leichnam des Königs behandelt hatte. Vielleicht war ihnen noch übel.«
    »Ja. Man stellt sich einen Mann, den man gekannt und bewundert hat, nicht gern nackt auf einem Pferd baumelnd vor.«
    »Man stellt sich nicht einmal einen Feind gern so vor. Aber Empfindsamkeit ist nicht die Eigenschaft, nach der man bei Heinrich oder Morton suchen darf.«
    »Morton!« sagte Brent und spie das Wort aus, als habe es einen schlechten Geschmack. »Als Morton starb, weinte ihm keiner eine Träne nach, das dürfen Sie mir glauben. Wissen Sie, was der Chronist über ihn schrieb? Ich meine den Londoner. Er schrieb: ›Es gibt keinen Mann in unserer Zeit, der es ihm auf allen Gebieten gleichgetan hätte. Und dennoch brachte ihm das Volk dieses Landes großen Haß und Abscheu entgegen‹.«
    Grant wandte sich wieder dem Porträt zu, das ihm so viele Tage und Nächte Gesellschaft geleistet hatte.
    »Wissen Sie«, sagte er, »ich glaube, Morton war in diesem Kampf mit Richard III. der Verlierer. Trotz all seiner Erfolge und seinem Kardinalshut. Richard kam trotz seiner Niederlage und seines schmählichen Nachrufs besser weg. Zu seinen Lebzeiten wurde er geliebt.«
    »Das ist kein schlechter Grabspruch«, sagte Carradine ernst.
    »Nein. Gewiß nicht«, sagte Grant und klappte Oliphant endgültig zu. »Niemand kann sich einen besseren wünschen.« Er reichte das Buch seinem Eigentümer. »Nur wenige haben es soweit gebracht«, sagte er.
    Als Carradine gegangen war, begann Grant die Gegenstände auf seinem Nachttisch zu ordnen. Er bereitete sich schon auf die Heimfahrt am nächsten Morgen vor. Die ungelesenen Moderomane wollte er der Krankenhausbücherei stiften, damit sie andere Herzen als das seine erfreuen sollten. Nur das Buch mit den Bergaufnahmen würde er behalten. Und er durfte auf keinen Fall vergessen, der Amazone die beiden Geschichtsbücher zurückzugeben. Er suchte sie heraus, damit er sie ihr geben konnte, wenn sie das Abendessen brachte. Und zum erstenmal seit dem Beginn seiner Suche nach der Wahrheit über Richard III. nahm er sich die Schulbuch-Erzählung über dessen Schurkerei wieder vor. Da stand sie klipp und klar, schwarz auf weiß, die schandbare Geschichte. Ohne ein Wort des Zweifels, ohne eine Bemerkung, ohne Kommentar, ohne Frage.
    Als er gerade das erzieherische Buch zuklappen wollte, fiel sein Auge auf die Anfänge der Regierungszeit Heinrichs VII., und er las: »Es gehörte zu den Grundsätzen der Tudor-Politik, sich aller Thronrivalen zu entledigen, insbesondere jener Erben des Hauses York, die beim Regierungsantritt Heinrichs VII. noch am Leben waren. Dieser Politik war Erfolg beschieden, wenngleich es Heinrich VIII. überlassen blieb, die letzten von ihnen auf die Seite zu schaffen.«
    Er starrte auf diese nüchterne Erklärung. Diese selbstverständliche Hinnahme eines Massenmords. Diese schlichte Bestätigung einer Familienausrottung.
    Man hatte Richard III. die Beseitigung seiner beiden Neffen zugeschrieben, und sein Name war durch diesen Mord der Inbegriff des Bösen schlechthin geworden. Heinrich VII. jedoch, zu dessen »Grundsätzen« es gehörte, eine ganze Familie auszurotten, galt als ein kluger und weitblickender Monarch. Vielleicht nicht als ein liebenswerter, aber doch als ein konstruktiver und gewissenhafter und im großen ganzen sehr erfolgreicher Monarch.
    Grant gab es auf. Geschichte war etwas, was er nie verstehen würde.
    Die Maßstäbe der Historiker waren so völlig verschieden von jedem anderen ihm bekannten Maßstab, daß er keine Möglichkeit sah, sich mit diesen Leuten jemals zu verständigen. Er wollte wieder nach Scotland Yard zurück, wo Mörder Mörder waren und wo es gleiches Recht für alle gab.
    Er
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