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Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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darauf, in ein Hotel zu gehen. Er wolle mir keine Mühe machen, sagte meine Mutter. Sie hat ihn immer entschuldigt. Als er merkte, daß Herbert mit mir flirtete, wurde er wütend. Er führte sich auf wie ein Idiot, mäkelte herum und wollte, als sie gingen, unbedingt, daß ich mit ihnen fahre. Da war ich schon ziemlich betrunken und müde und wäre eigentlich gern nach Hause gegangen. Aber er hatte mich den ganzen Abend lang so wütend gemacht, daß ich nur ihm zuleide blieb und Herbert vor ihm fragte, ob er nach dem Essen mit mir tanzen wolle. Es gab eine Band bei der Feier, aber ich mußte eine ganze Weile warten, bis Herbert mit seiner Arbeit fertig war. Mein Vater machte mir eine Szene und nannte mich ein Flittchen. Kannst du dir das vorstellen? Und meine Mutter weinte sogar, als sie endlich gingen.«
    »Und?« sagte ich.
    »Ich glaube, ich war ein bißchen verliebt«, sagte Agnes, »wir haben ziemlich lange getanzt. Herbert hat mich auch geküßt. Und dann nach Hause gefahren. Aber passiert ist nichts. Ich glaube, er hatte zuviel Respekt vor meinem Talar.«
    »Zuviel?« sagte ich, und Agnes lachte und blinzelte mir zu.
    »Er hat seinen Job verloren, weil er den Geschäftswagen mit all dem schmutzigen Geschirr erst so spät zurückbrachte.«
    »Siehst du ihn noch?«
    »Er hat eine Stelle in New York gefunden. Er macht Durchsagen in einem Shopping-Center und hofft, entdeckt zu werden.«
    Nach dem Essen mußte ich mich neben Agnes an den Schreibtisch setzen. Sie schaltete den Computer ein und öffnete ein Textfile.
    »Lies«, sagte sie.
    Ich begann zu lesen, aber kaum hatte ich die ersten Sätze überflogen, unterbrach sie mich und sagte: »Siehst du, ich habe auch eine Geschichte geschrieben. Ich möchte mehr schreiben. Wie findest du es?«
    »Laß mich erst lesen«, sagte ich. Aber sie war zu gespannt, um ruhig neben mir zu sitzen.
    »Ich geh und mache uns einen Kaffee.«
    Ich las.
Ich muß gehen. Ich stehe auf. Ich verlasse das Haus. Ich fahre mit dem Zug. Ein Mann starrt mich an. Er setzt sich neben mich. Er sieht auf, als ich aufstehe. Er folgt mir, als ich aussteige. Wenn ich mich umdrehe, kann ich ihn nicht sehen, so nahe ist er mir. Aber er berührt mich nicht. Er folgt mir. Er spricht nicht. Er ist immer bei mir, bei Tag und in der Nacht. Er schläft mit mir, ohne mich zu berühren. Er ist in mir, er füllt mich aus. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich nur ihn. Ich erkenne meine Hände nicht mehr, meine Füße nicht. Meine Kleider sind zu klein, meine Schuhe drücken, mein Haar ist heller geworden, meine Stimme dunkler. Ich muß gehen. Ich stehe auf. Ich verlasse das Haus.
    Ich hatte den Text schnell und oberflächlich gelesen. Ich war ungeduldig. Verlegen lächelnd kam Agnes aus der Küche zurück. Wir setzten uns wieder an den Eßtisch. Die Kerzen waren beinahe heruntergebrannt.
    »Und?« sagte sie.
    »Kaffee?« fragte ich. Ich hatte keine Lust, ihren Text zu beurteilen, und nahm es ihr übel, daß sie mich dazu zwang. Als sie sich entschuldigte und mir Kaffee eingoß, schämte ich mich.
    »Schau«, begann ich. Ich hielt ihren erwartungsvollen Blick nicht aus, nahm meinen Kaffee und trat ans Fenster. »Schau, man setzt sich nicht einfach hin und schreibt in einer Woche einen Roman. Ich schreibe ja auch keine Computerprogramme.«
    »Es ist doch nur eine kurze Geschichte«, verteidigte sich Agnes.
    »Ich kann sie nicht beurteilen«, sagte ich, »ich will es nicht. Ich bin kein Schriftsteller.«
    Agnes schwieg, und ich schaute hinaus auf die Straße. »Du mußt nicht«, sagte sie.
    »Sie kommt mir vor wie eine mathematische Formel«, sagte ich, »wie wenn du irgendwo im Kopf eine Unbekannte X gehabt hättest, die es zu finden gilt. Die Geschichte wird immer enger, wie ein Trichter. Und irgendwann ist das Resultat null.«
    Ich redete noch eine Weile so dahin und glaubte wohl selbst an das, was ich sagte. Es ging schon lange nicht mehr um die Geschichte. Vielleicht war sie wirklich nicht gut, sicher aber war sie besser als alles, was ich in den letzten zehn Jahren geschrieben hatte.
    »Du liest ja nicht einmal«, sagte ich schließlich, »du hast ja keine Bücher. Wie willst du schreiben, wenn du nicht liest?«
    Agnes schnitt stumm den Apfelkuchen auf, den sie für mich gebacken hatte.
    »Magst du Eis dazu?« fragte sie, ohne mich anzublicken. Wir aßen.
    »Der Kuchen ist gut«, sagte ich.
    Agnes stand auf und ging zum Computer. Auf dem Bildschirm waren Sterne zu sehen, Lichtpunkte, die vom Zentrum nach
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