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Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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mein Pullover? Seh ich nicht süß aus darin?«
    »Er ist originell.«
    »Ich muß schlafen, damit ich morgen schön und ausgeruht bin.«
    Sie kicherte, drehte sich zur Seite und war bald darauf wieder eingeschlafen. Irgendwann schlief auch ich ein. Als ich aufwachte, dämmerte es draußen. Der Zug fuhr an einem breiten Strom entlang. Ich ging in den Speisewagen und bestellte Kaffee. Kurz darauf kam meine Sitznachbarin herein.
    »Darf ich?« fragte sie und setzte sich mir gegenüber. »Finden Sie nicht auch, daß der Zug viel bequemer ist als das Flugzeug?«
    »Ja«, sagte ich und schaute aus dem Fenster.
    »In sechs Stunden sind wir da«, sagte sie. »Ich kann gar nicht mehr schlafen vor Aufregung.« Sie zog ein Foto aus ihrer Tasche und zeigte es mir. »Das ist er. Er heißt Paco.«
    »Sie müssen vorsichtig sein. Nicht alle Männer meinen es gut.«
    »Wir schreiben uns schon seit Monaten. Er spielt Gitarre.«
    »Kennen Sie niemanden sonst in New York?«
    »Ich kenne Paco, das genügt«, sagte sie und sprach den Namen seltsam gespreizt und mit Nachdruck aus. Dann zog sie einen abgegriffenen Brief aus ihrer Handtasche und reichte ihn mir über den Tisch. »Lesen Sie.«
    Ich las die ersten Sätze und gab ihn ihr zurück. Paco hatte etwas über ein Foto geschrieben, das seine Geliebte ihm geschickt hatte.
    »Glauben Sie, daß er mich liebt?« fragte sie.
    »Es wird schon gutgehen«, sagte ich.
    Sie lächelte dankbar und sagte: »Ein Mann, der so schöne Briefe schreibt, kann kein schlechter Mensch sein.«

8
    Am Sonntagvormittag kam ich aus New York zurück. Ich hatte wieder den Nachtzug genommen und rief Agnes noch vom Bahnhof aus an.
    »Kommst du zu mir?« fragte sie. »Ich muß dir etwas zeigen.«
    Es war das erste Mal, daß sie mich zu sich einlud. Trotz ihrer genauen Anweisungen brauchte ich lange, um die Straße zu finden. Agnes hatte vor Aufregung rote Wangen, als sie mir die Tür öffnete. Sie strahlte und bat mich herein.
    »Erst essen wir«, sagte sie, »ich bin gleich fertig. Setz dich doch.«
    Während sie in der Küche hantierte, schaute ich mich im Zimmer um. Man sah, daß Agnes sich Mühe gegeben hatte, den Raum gemütlich einzurichten. In einer Nische lagen auf einer Matratze einige Plüschtiere, und am Fenster stand ein großer Schreibtisch mit einem Computer. Der runde Eßtisch in der Mitte des Raumes war gedeckt und mit Blumen und Kerzen geschmückt. Auf dem Sims eines alten, zugemauerten Kamins standen Familienfotos und ein Bild von Agnes selbst im Talar, das wohl während der Abschlußfeier an ihrer Universität aufgenommen worden war. Sie blickte direkt in die Kamera, aber obwohl sie lächelte, wirkte ihr Gesicht abweisend und verschlossen.
    »Da hattest du noch längere Haare«, rief ich in die Küche.
    Agnes streckte den Kopf ins Zimmer und sagte: »Bei der Diplomfeier? Das hat mein Vater gemacht. Da war ich betrunken.«
    »So siehst du nicht aus.«
    »Ich habe keine Übung. Es dauert nur noch eine Minute. Schau dich ruhig um.«
    Sie verschwand wieder in der Küche. Ich ging zum Fenster, das einen Spaltbreit offenstand. Es war Mittag. Draußen fiel leichter Nieselregen. Die Straße lag verlassen da. Ich drehte mich um. Überall standen Topfpflanzen, dennoch wirkte das Zimmer unbelebt, als sei es seit Jahren von keinem Menschen betreten worden. Erst jetzt fiel mir auf, daß Agnes kaum Bücher besaß. Außer einer Reihe von Fachbüchern und Computermanuals, die ordentlich aufgereiht in einem niedrigen Gestell standen, sah ich nur die Norton Anthology of Poetry .
    An den Wänden des Zimmers hingen Drucke, eine Gebirgslandschaft von Ludwig Kirchner und ein abstoßendes Theaterplakat.
    »Mörder, Hoffnung der Frauen« , sagte Agnes, die mit einer Schüssel aus der Küche gekommen war. Sie sagte es auf deutsch, und es war seltsam, sie in meiner Sprache sprechen zu hören. Ihre Stimme wirkte anders als sonst, rauher und älter. »Das Plakat ist von Oskar Kokoschka«, sagte sie wieder auf englisch.
    »Weißt du, was es bedeutet?« fragte ich.
    Agnes nickte. »Ich weiß, was es heißt, aber ich weiß nicht recht, was es bedeuten soll.«
    »Ich auch nicht.«
    »Da habe ich Herbert kennengelernt«, sagte Agnes und zeigte auf das Foto, »bei der Diplomfeier. Das war vor drei Jahren. Er arbeitete für eine Catering-Firma.«
    »Ist er Kellner?« fragte ich.
    »Schauspieler«, sagte Agnes. »Meine Eltern waren extra aus Florida gekommen. Sie hätten bei mir übernachten können, aber mein Vater bestand
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