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Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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sie, »aber irgendwann stirbt man ja doch.«
    »Ich dachte schon, du meinst es ernst.«
    »Natürlich meine ich es ernst.«
    »Ich glaube nicht, daß die Frau gelitten hat«, sagte ich, um sie zu beruhigen.
    »Das meine ich nicht, daß sie gelitten hat. Solange man leidet, lebt man doch wenigstens. Ich fürchte mich nicht vor dem Sterben. Ich habe Angst vor dem Tod – einfach, weil dann alles zu Ende ist.«
    Agnes schaute quer durch den Raum, als habe sie jemanden entdeckt, den sie kannte, aber als ich mich umdrehte und in dieselbe Richtung schaute, waren da nur leere Tische.
    »Du weißt ja nicht, wann es zu Ende ist«, sagte ich, und als sie nicht antwortete: »Ich habe mir immer vorgestellt, daß man sich irgendwann müde hinlegt und im Tod zur Ruhe kommt.«
    »Offenbar hast du nicht sehr lang darüber nachgedacht«, sagte Agnes kühl.
    »Nein«, gab ich zu, »es gibt Themen, die mich mehr interessieren.«
    »Was ist, wenn man vorher stirbt? Bevor man müde ist«, sagte sie, »wenn man nicht zur Ruhe kommt?«
    »Ich bin noch lange nicht bereit«, sagte ich.
    Wir schwiegen. Ich erinnerte mich an ein Gedicht von Robert Frost, aber mir fielen die genauen Worte nicht ein. Ich bezahlte an der Theke, und wir gingen.
    Wie selbstverständlich kam Agnes mit zu mir. Ich wohne im siebenundzwanzigsten Stockwerk des Doral Plaza, eines Wolkenkratzers mitten in der Innenstadt. In der Eingangshalle trafen wir den Verkäufer des kleinen Ladens, der gerade dabei war, sein Geschäft abzuschließen. Er blinzelte mir zu und lächelte anzüglich. »Keine Videos heute abend«, sagte er und atmete tief und genießerisch ein. Ich antwortete nicht und ging weiter, ohne ihn zu grüßen.
    »Wer war das?« fragte Agnes im Aufzug.
    Ich nahm ihre Hand und küßte sie, und wir küßten uns, bis der Aufzug mit einem leisen Glockenton auf der siebenundzwanzigsten Etage zum Stehen kam.

5
    Alles ging sehr schnell. Wir küßten uns im Flur, dann im Wohnzimmer. Agnes sagte, sie habe noch nie mit einem Mann geschlafen, aber als wir ins Schlafzimmer gingen, war sie sehr ruhig, zog sich aus und blieb nackt vor mir stehen. Sie war unbefangen und beobachtete mich mit ernstem Interesse. Sie war erstaunt, wie bleich ich war.
    Wir hatten das Licht nicht gelöscht, und es brannte noch immer, als wir irgendwann spät in der Nacht einschliefen. Ich erwachte, als es draußen schon langsam hell wurde. Das Licht war jetzt gelöscht, und vor dem milchigen Viereck des Fensters sah ich die Silhouette von Agnes’ nacktem Körper. Ich stand auf und trat neben sie. Sie hatte das seitliche kleine Kippfenster geöffnet und ihre Hand durch den engen Spalt gezwängt. Gemeinsam schauten wir auf die Hand, die sich draußen wie abgetrennt bewegte.
    »Ich konnte das Fenster nicht öffnen.«
    »Die Wohnung ist klimatisiert …«
    Wir schwiegen beide. Agnes machte mit der Hand langsame, kreisende Bewegungen.
    »Ich könnte fast dein Vater sein, fast«, sagte ich.
    »Aber du bist es nicht.«
    Agnes zog die Hand zurück und drehte sich zu mir. »Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?«
    »Nein«, sagte ich, »alles wäre irgendwie … sinnlos. Wenn es danach weiterginge.«
    »Als ich ein Kind war, nahmen meine Eltern mich jeden Sonntag mit in die Kirche«, sagte Agnes, »aber ich habe von Anfang an nie daran glauben können. Obwohl ich es mir manchmal gewünscht habe. Wir hatten eine Sonntagsschullehrerin, eine kleine, häßliche Frau, die irgendeine Behinderung hatte. Einen Klumpfuß, glaube ich. Einmal erzählte sie uns, wie sie als Kind ihren Schlüssel verloren hatte. Ihre Eltern waren bei der Arbeit, und sie konnte nicht ins Haus. Da habe sie gebetet, und Gott habe ihr gezeigt, wo der Schlüssel gewesen sei. Sie habe ihn auf dem Nachhauseweg von der Schule verloren. Ich habe dann auch manchmal gebetet, aber immer angefangen mit ›Lieber Gott, wenn es dich gibt‹. Viel öfter habe ich mir selbst Aufgaben gestellt. Wenn ich es schaffe, eine Viertelstunde auf einem Bein zu stehen oder mit geschlossenen Augen hundert Schritte weit zu gehen, dann geschieht, was ich will. Und manchmal zünde ich noch heute eine Kerze an, wenn ich eine Kirche besuche. Für die Verstorbenen. Obwohl ich nicht daran glaube. Ich habe als Kind immer gedacht, warum hat die Frau einen Klumpfuß, wenn Gott sie liebt. Das war natürlich ungerecht.«
    »Vielleicht gibt es eine Art ewiges Leben«, sagte ich und schloß das Klappfenster. Die leisen Nachtgeräusche von draußen verstummten, und die Enge des
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