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Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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Morgen gefragt wurde, was ich wünsche, obwohl es immer dasselbe war.
    Ich fragte Agnes, woran sie arbeite. Sie sagte, sie habe Physik studiert und schreibe an ihrer Dissertation. Über die Symmetrien der Symmetriegruppen von Kristallgittern. Sie habe eine Teilzeit-Assistentenstelle am Mathematischen Institut der Chicago University. Sie sei fünfundzwanzig Jahre alt.
    Sie sagte, sie spiele Cello, liebe Malerei und Gedichte. Sie sei in Chicago aufgewachsen. Ihr Vater war vor einigen Jahren in Pension gegangen, und ihre Eltern waren nach Florida gezogen und hatten sie alleine zurückgelassen. Agnes bewohnte ein Studio in einem der Außenviertel der Stadt. Sie hatte kaum Freunde oder Freundinnen, nur drei Streicherinnen, die sie jede Woche traf und mit denen sie Quartett spielte.
    »Ich bin kein sehr sozialer Mensch«, sagte sie.
    Ich erzählte Agnes, daß ich schreibe. Sie ignorierte es, stellte mir keine Fragen über meine Arbeit, und ich erwähnte nicht, daß ich Bücher veröffentlicht hatte. Eigentlich war ich froh über ihr Desinteresse. Ich bin nicht besonders stolz darauf, Sachbücher zu schreiben, und es gibt interessantere Gesprächsthemen als Zigarren, die Geschichte des Fahrrads oder der Luxuseisenbahnwagen.
    Wir sprachen nur stichwortartig über uns selbst, diskutierten statt dessen über Kunst und Politik, über die Präsidentschaftswahlen im Herbst und über die Verantwortung der Wissenschaft. Agnes hatte eine Vorliebe, über Ideen zu reden, auch später, als wir uns besser kannten. Ihr Privatleben beschäftigte sie damals nur wenig, zumindest sprach sie nicht darüber. Wenn wir diskutierten, lag in allem, was Agnes sagte, ein seltsamer Ernst, ihre Ansichten waren streng. Wir blieben lange im Coffee Shop. Erst als gegen Mittag immer mehr Gäste kamen, wurde die Kellnerin ungeduldig, und wir gingen.

4
    Viele Tage lang sahen wir uns nur in der Bibliothek, ohne uns zu verabreden. Oft rauchten wir zusammen auf der Treppe oder tranken Kaffee, und langsam gewöhnten wir uns aneinander, wie man sich an ein neues Kleidungsstück gewöhnt, das man erst für einige Zeit in den Schrank hängt, bevor man wagt, es anzuziehen. Dann, nach ein paar Wochen, lud ich Agnes zum Abendessen ein. Wir beschlossen, in ein kleines chinesisches Restaurant in der Nähe der Universität zu gehen.
    Als ich am vereinbarten Abend zum Restaurant kam, lag davor auf dem Gehsteig eine Frau. Sie bewegte sich nicht. Ich kniete mich neben sie und stieß sie vorsichtig an. Sie war nicht älter als Agnes. Ihr Haar war rot und ihr Gesicht bleich und voller Sommersprossen. Sie trug einen kurzen Rock und einen waldgrünen Wollpullover. Sie schien nicht zu atmen, und ich fühlte keinen Herzschlag, als ich meine Hand dicht unter ihrer Brust auf den Pullover legte. Von der nächsten Straßenecke aus rief ich den Notfalldienst an. Die Frau am anderen Ende der Leitung fragte mich nach meinem Namen, meiner Adresse, meiner Telefonnummer, bevor sie endlich versprach, einen Krankenwagen vorbeizuschicken.
    »Ist die Person tot?« fragte sie.
    »Ich weiß es nicht. Ich bin kein Spezialist«, sagte ich, »ich nehme es an.«
    Als ich zum Restaurant zurückkam, hatten sich um die Liegende einige Passanten versammelt, und schweigend warteten wir auf die Ambulanz. Der Wagen traf fünf Minuten später ein, gerade als Agnes die Straße entlangkam. Sie war bei der Probe ihres Streichquartetts gewesen und trug noch das Cello bei sich.
    Ich sprach mit den Sanitätern, sagte, ich hätte die Frau gefunden, als sei es ein Verdienst.
    »Tot«, sagte der Fahrer, »die hat’s geschafft.«
    Agnes stand neben mir und wartete. Sie stellte keine Fragen, auch später nicht beim Essen. Sie saß sehr aufrecht am Tisch, aß langsam und sorgfältig, als müsse sie sich konzentrieren, um keine Fehler zu machen. Wenn sie kaute, hatte sie die gespannte Nervosität einer Musikerin, die auf ihren nächsten Einsatz wartet. Nur wenn sie geschluckt hatte, entspannte sich ihr Gesicht für einen Augenblick, und sie wirkte erleichtert.
    »Ich koche nie für mich selbst«, sagte ich, »nur schnelle Sachen, Rührei. Für andere koche ich gern. Ich esse viel mehr, wenn ich in Gesellschaft bin.«
    »Ich esse überhaupt nicht gern«, sagte Agnes.
    Nach dem Essen trank ich Kaffee. Agnes bestellte Tee. Wir hatten einen Augenblick lang schweigend dagesessen, als sie plötzlich sagte: »Ich habe Angst vor dem Tod.«
    »Weshalb?« fragte ich erstaunt. »Bist du krank?«
    »Nein, nicht jetzt«, sagte
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