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Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
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meinen Arm.
    »Könntest du nicht eine Geschichte über mich schreiben?« fragte sie.
    Ich lachte, und sie lachte mit.
    »Wenn du unsterblich werden willst, mußt du dir einen Berühmteren suchen.«
    »Zweihundert Exemplare sind genug. Sogar wenn es nicht gedruckt wird. Es wäre wie ein Porträt. Du hast die Fotos von mir gesehen. Es gibt kein einziges gutes Bild von mir. Auf dem man mich sieht, wie ich bin.«
    »Soll ich ein Gedicht über dich machen?« fragte ich. »So long as men can breathe, or eyes can see, so long lives this, and this gives life to thee.«
    »Kein Gedicht«, sagte Agnes, »eine Geschichte.«
    Wir waren zurück zum Doral Plaza gekommen. Der kleine Laden hatte geschlossen.
    »Bist du jemals die Treppe hinaufgegangen?« fragte Agnes.
    »Nein«, sagte ich, »warum sollte ich?«
    »Woher weißt du dann, daß du wirklich in der siebenundzwanzigsten Etage wohnst?«
    Wir gingen die Feuertreppe hinauf und zählten die Stockwerke. Das Treppenhaus war eng und gelb gestrichen. Als wir im zwanzigsten Stockwerk stehenblieben, um uns auszuruhen, hörten wir weit entfernt Schritte. Wir hielten den Atem an, aber die Schritte hörten plötzlich auf, eine Tür schlug zu, und es war wieder still.
    »Ich mag Fahrstühle nicht«, sagte Agnes, »man verliert den Boden unter den Füßen.«
    »Ich finde sie äußerst praktisch«, sagte ich und ging weiter, »stell dir vor …«
    »Ich möchte nicht so weit oben wohnen«, sagte Agnes und folgte mir, »es ist nicht gut.«
    Wie erwartet, fanden wir meine Wohnung im siebenundzwanzigsten Stock. Erschöpft ließ ich mich aufs Sofa fallen. Agnes holte sich ein Glas Wasser und brachte mir ein Bier.
    »Ich habe nie Geschichten über lebende Personen geschrieben«, sagte ich, »am Anfang bin ich vielleicht von jemandem ausgegangen, den ich kannte. Aber in der Geschichte selbst muß man frei sein. Alles andere ist Journalismus.«
    Agnes setzte sich neben mich.
    »Und die Geschichten, die du geschrieben hast, hatten nichts mehr mit den Personen zu tun, von denen du ausgegangen warst?«
    »Doch«, sagte ich, »mit dem Bild, das ich mir von ihnen gemacht hatte. Vielleicht zu sehr. Meine damalige Freundin trennte sich von mir, weil sie sich in einer der Geschichten wiedererkannt hatte.«
    »Wirklich?« fragte Agnes.
    »Nein«, sagte ich, »wir haben uns auf diese Version geeinigt.« Agnes dachte nach.
    »Schreib eine Geschichte über mich«, sagte sie dann, »damit ich weiß, was du von mir hältst.«
    »Ich weiß nie, was dabei herauskommt«, sagte ich, »ich habe keine Kontrolle darüber. Vielleicht wären wir beide enttäuscht.«
    »Mein Risiko«, sagte Agnes, »du mußt nur schreiben.« Ich war verliebt, und es sprach nichts dagegen, ein paar Tage zu opfern und eine Geschichte zu schreiben. Agnes’ Eifer hatte mich neugierig gemacht, und ich war gespannt, ob das Experiment gelingen würde, ob ich überhaupt noch fähig war, Geschichten zu schreiben.
    »Komm, wir fangen gleich an«, sagte Agnes, »eine Liebesgeschichte mit dir und mir.«
    »Nein«, sagte ich, »nicht wir. Ich schreibe die Geschichte. Und vorher möchte ich mir das Feuerwerk anschauen.«
    Agnes sagte, sie interessiere sich nicht für das Feuerwerk und ob ich nicht gleich mit dem Schreiben beginnen könne. Ich nahm ein Blatt Papier und schrieb.
Am Abend des dritten Juli gingen wir auf die Dachterrasse und schauten uns gemeinsam das Feuerwerk an.
    Der Lift fuhr bis ins vierunddreißigste Stockwerk, von da aus führte eine schmale Treppe aufs Dach. Der Boden war mit Holzrosten belegt, die von der Sonne und vom Regen fast schwarz geworden waren. Wir gingen an die Brüstung und schauten hinunter. Tief unten sahen wir Autos vorüberfahren und winzige Menschen, die sich durch den Abendverkehr bewegten. Auch den See konnten wir von hier aus sehen und den Grant Park, wo Dutzende von Feuern brannten.
    »All die Menschen«, sagte Agnes. »Sie wissen nicht, daß wir sie beobachten.«
    »Es ist kein Unterschied, ob sie es wissen.«
    »Sie könnten sich verstecken«, sagte Agnes. »Weißt du, wann das Feuerwerk beginnt?«
    »Ich weiß nicht. Wenn es dunkel genug ist. Frierst du?«
    »Nein«, sagte sie und legte sich auf eine der Holzbänke, die auf der Terrasse standen. »Bist du oft hier oben?«
    Ich setzte mich neben sie. »Am Anfang kam ich fast jeden Tag hier herauf. Jetzt nicht mehr oft. Eigentlich nie mehr.«
    »Warum?« fragte Agnes. »Man kann die Sterne sehen.«
    Dann begann das Feuerwerk. Agnes stand auf, und wir
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