Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Agnes: Roman (German Edition)

Agnes: Roman (German Edition)

Titel: Agnes: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Stamm
Vom Netzwerk:
berühren konnte. Wenn sie aber bei mir war, fühlte ich mich wie berauscht, und meine ganze Umgebung, die Luft, das Licht, schienen mir schmerzhaft deutlich und nah, und selbst die Zeit wurde konkret und spürbar in ihrem Vergehen. Ich hatte zum erstenmal in meinem Leben das Gefühl, etwas dringe von außen in mich ein, etwas Fremdes, Unverständliches.
    Ich begann, Agnes zu beobachten, und merkte erst jetzt, wie wenig ich sie kannte. Mir fielen die kleinen Rituale auf, die sie scheinbar unbewußt zelebrierte. Wenn wir zusammen essen gingen und der Kellner oder die Kellnerin gedeckt hatte, rückte Agnes jedesmal das Besteck zurecht. Wurde das Essen gebracht, hob sie den Teller mit beiden Zeigefingern kurz in die Höhe, balancierte ihn eine halbe Sekunde, als suche sie seinen Schwerpunkt, und stellte ihn wieder hin.
    Sie berührte nie fremde Menschen und vermied es, von ihnen berührt zu werden. Gegenstände jedoch berührte sie unentwegt. Sie streifte mit der Hand Möbelstücke und Gebäude, an denen sie vorüberging. Kleinere Gegenstände tastete sie oft richtiggehend ab, als könne sie sie nicht sehen. Manchmal roch sie auch an ihnen, aber wenn ich sie darauf hinwies, schien sie es nicht bemerkt zu haben.
    Wenn sie las, war sie so sehr in den Text versunken, daß sie nicht antwortete, wenn ich sie ansprach. Dann flackerten Andeutungen von Gefühlen, Echos des Gelesenen über ihr Gesicht. Sie lächelte oder preßte die Lippen aufeinander. Manchmal seufzte sie oder runzelte ärgerlich die Stirn.
    Agnes schien zu bemerken, daß ich sie beobachtete, aber sie sagte nichts. Ich glaube, sie freute sich darüber. Manchmal erwiderte sie meine erstaunten Blicke lächelnd, aber ohne Eitelkeit.
    Wenige Tage nach unserem Ausflug an den See stieß ich in der Geschichte in die Zukunft vor. Jetzt war Agnes mein Geschöpf. Ich fühlte, wie die neugewonnene Freiheit meine Phantasie beflügelte. Ich plante ihre Zukunft, wie ein Vater die Zukunft seiner Tochter plant. Sie würde eine brillante Doktorarbeit schreiben und erfolgreich sein an der Universität. Wir würden glücklich miteinander werden. Ich ahnte schon, daß Agnes in meiner Geschichte irgendwann zum Leben erwachen würde und daß sie dann kein Plan davon abhalten könnte, ihre eigenen Wege zu gehen. Ich wußte, daß dieser Augenblick kommen mußte, wenn die Geschichte etwas taugen sollte, und so erwartete ich ihn gespannt, freute mich darauf und fürchtete mich zugleich davor.
    Wir hatten uns einige Tage nicht gesehen, aber ich hatte dauernd an Agnes gedacht und an der Geschichte weitergeschrieben. Als mein Verleger mich anrief, um sich nach dem Fortschritt meiner Arbeit zu erkundigen, vertröstete ich ihn und behauptete, ich hätte Schwierigkeiten, gewisse Dokumente aufzutreiben. Er sagte, er habe das Buch für den Herbst des kommenden Jahres in das Verlagsprogramm eingeplant, und ich versprach, das Manuskript bis Weihnachten abzuliefern. Kaum hatte ich aufgelegt, rief ich Agnes an und lud sie zu mir ein.
    »Du kommst im dunkelblauen Kleid«, sagte ich.
    »Wie meinst du das?« fragte sie erstaunt.
    »Ich habe die Gegenwart überholt«, sagte ich, »ich weiß schon, was geschehen wird.«
    Sie lachte.

13
    Wirklich trug Agnes das blaue kurze Kleid, als sie am nächsten Tag zu mir kam. Es war kühl, und es regnete, aber sie sagte: »Befehl ist Befehl«, und lachte nur, als ich mich entschuldigte.
    »Wir gingen ins Wohnzimmer, und Agnes umarmte und küßte mich lange, als habe sie Angst, mich zu verlieren« , zitierte ich. Und wie ich es geschrieben hatte, umarmte mich Agnes, nur lachte sie dabei und hatte keine Angst. Ich machte mich los und ging in die Küche, um das Essen fertig zuzubereiten.
    »Kann ich helfen?« fragte sie.
    »Nein«, sagte ich. »Agnes saß im Wohnzimmer und hörte meine cds, während ich das Abendessen kochte.« Ich hatte eine Flasche Champagner gekauft, obwohl keiner von uns sich viel daraus machte.
    »Warum so feierlich?« fragte Agnes.
    » Es war ein ganz besonderer Tag für uns. Ich hatte beschlossen … Aber erst wollen wir essen.«
    »Das ist gemein«, sagte sie, »erst machst du mich neugierig, und dann …«
    »Es tut mir leid«, sagte ich, »wir reden erst nach dem Essen darüber.«
    Wir sprachen über anderes, aber ich merkte, daß Agnes gespannt war, was passieren würde. Sie aß schneller als sonst, und als wir fertig waren, räumten wir den Tisch nicht ab und ließen das schmutzige Geschirr stehen. Ich setzte mich aufs Sofa und zog ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher