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Agent 6

Titel: Agent 6
Autoren: Tom Rob Smith
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nicht aus Angst, jemand könnte mithören, sondern um zu zeigen, dass er nicht offiziell sprach, nicht als Offizier der Geheimpolizei.
    – Was ist zwischen euch vorgefallen? Bist du auf sie zugegangen und hast einfach etwas gesagt? Und sie …
    Leo zögerte. Er wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte. Schließlich fragte er holprig:
    – Und sie ist darauf eingegangen …?
    Grigori schien nicht genau zu wissen, ob ihm ein Freund oder ein vorgesetzter Offizier die Frage stellte. Als ihm klar wurde, dass Leo tatsächlich neugierig war, antwortete er:
    – Wie lernt man schon jemanden kennen? Man stellt sich vor. Ich habe über ihre Kunstwerke gesprochen. Ich habe ihr erzählt, ich hätte ein paar Bilder von ihr gesehen – das stimmt auch. Darüber sind wir ins Gespräch gekommen. Man konnte gut mit ihr reden, sie war nett.
    Leo fand das erstaunlich.
    – War sie nicht misstrauisch?
    – Nein.
    – Das hätte sie aber sein sollen.
    Einen Moment lang hatten sie als Freunde über Herzensangelegenheiten gesprochen, jetzt waren sie wieder Agenten. Grigori ließ den Kopf hängen.
    – Du hast recht, das hätte sie sein sollen …
    Er war nicht böse auf Leo. Er war wütend auf sich selbst. Seine Beziehung zu der Künstlerin baute auf einer Lüge auf, seine Zuneigung beruhte auf List und Täuschung.
    Leo war selbst überrascht, als er Grigori das Tagebuch entgegenstreckte.
    – Hier, nimm.
    Grigori rührte sich nicht, er begriff nicht, was gerade passierte. Leo lächelte.
    – Nimm es. Sie darf weiter als Künstlerin arbeiten. Es gibt keinen Grund, die Sache weiter zu verfolgen.
    – Bist du sicher?
    – Ich habe im Tagebuch nichts gefunden.
    Grigori begriff, dass sie in Sicherheit war, und lächelte. Er zog Leo das Tagebuch aus der Hand. Als die Seiten unter Leos Fingern hinwegglitten, spürte er einen Umriss auf dem Papier – keinen Buchstaben, auch kein Wort, sondern eine Form, die er nicht gesehen hatte.
    – Warte.
    Leo nahm das Tagebuch wieder an sich, schlug die Seite auf und begutachtete die rechte obere Ecke. Sie war leer. Aber auf der Rückseite konnte er eingedrückte Linien ertasten. Etwas war dort ausradiert worden.
    Er nahm einen Bleistift, fuhr mit der Mine flach über das Papier und enthüllte den Geist einer kleinen Kritzelei. Die Zeichnung war kaum größer als sein Daumen. Sie zeigte eine Frau mit Fackel auf einem Sockel, eine Statue. Leo starrte verständnislos auf die Skizze, bis ihm klar wurde, was sie zeigte. Es war ein amerikanisches Denkmal. Die Freiheitsstatue. Leo sah Grigori an.
    Der stolperte über seine eigenen Worte.
    – Sie ist Künstlerin. Sie zeichnet ständig irgendwas.
    – Warum wurde das ausradiert?
    Darauf konnte er nichts sagen.
    – Hast du Beweise manipuliert?
    Grigoris Antwort klang panisch.
    – Als ich beim MGB anfing, hat man mir an meinem ersten Tag eine Geschichte über Lenins Sekretärin Fotiewa erzählt. Sie hat gesagt, Lenin hätte Feliks Dserschinski, den Leiter der Staatssicherheit, gefragt, wie viele Konterrevolutionäre er unter Arrest hat. Dserschinski gab ihm ein Blatt Papier mit der Zahl 1500 darauf. Lenin zeichnete ein Kreuz und gab ihm das Blatt zurück. Laut seiner Sekretärin war das Kreuz für Lenin ein Zeichen, dass er ein Dokument gelesen hatte. Dserschinski hat ihn jedoch falsch verstanden und ließ alle hinrichten. Deshalb musste ich das ausradieren. Man hätte die Zeichnung falsch verstehen können.
    Leo fand den Vergleich unpassend. Er hatte genug gehört.
    – Dserschinski war der Vater dieser Behörde. Dein Dilemma mit seinem zu vergleichen ist lächerlich. Wir dürfen uns keine Interpretation erlauben. Wir sind keine Richter. Wir können nicht entscheiden, ob wir Beweise vorlegen oder vernichten. Wenn sie unschuldig ist, wie du behauptest, wird sich das bei weiteren Befragungen herausstellen. Mit deinem fehlgeleiteten Versuch, sie zu beschützen, hast du dich selbst belastet.
    – Leo, sie ist ein guter Mensch.
    – Du bist von ihr besessen. Du kannst nicht mehr klar urteilen.
    Leos Stimme war plötzlich schroff geworden. Als er sich selbst hörte, sprach er sanfter weiter:
    – Der Beweis existiert noch, deshalb sehe ich keinen Grund, deinen Fehler offiziell zu melden. Er würde mit Sicherheit das Ende deiner Karriere bedeuten. Schreib deinen Bericht, markiere die Zeichnung als Beweisstück, und überlass die Entscheidung denen, die mehr Erfahrung haben.
    Dann fügte er hinzu:
    – Und, Grigori, ich kann dich nicht noch
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