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Agent 6

Titel: Agent 6
Autoren: Tom Rob Smith
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alle mal traurig oder einsam oder melancholisch. Wir sehen nicht jedes Mal auf den historischen Kalender, wenn wir uns so fühlen.
    Leo wurde ärgerlich.
    – Vielleicht hatte es nichts mit dem Vertrag zu tun? Vielleicht gibt es gar keine Feinde? Vielleicht lieben alle Bürger unseren Staat? Vielleicht gibt es niemanden, der unsere Arbeit unterminieren will? Unsere Aufgabe ist es, Schuld zu beweisen, und nicht, naiv darauf zu vertrauen, dass keine vorliegt.
    Grigori merkte, wie wütend Leo war, und dachte nach. Dann formulierte er seine Antwort ungewohnt diplomatisch um, so dass sie weniger provozierend klang, aber an seinen Schlussfolgerungen festhielt:
    – Polinas Tagebuch enthält gewöhnliche Beobachtungen über ihren Alltag. Soweit meine Fähigkeiten es erlauben, sehe ich nichts, was gegen sie spricht. So lautet mein Ergebnis.
    Die Künstlerin, die Grigori so formlos bei ihrem Vornamen nannte, wie Leo nicht entgangen war, sollte eine Reihe öffentlicher Wandgemälde entwerfen und ausführen. Weil bei Künstlern immer das Risiko bestand, dass sie etwas unterschwellig Subversives produzierten, ein Kunstwerk mit einer versteckten Bedeutung, führte das MGB Routinekontrollen durch. Die Überlegung war einfach. Wenn ihr Tagebuch nichts Subversives enthielt, würde ihre Kunst das wahrscheinlich auch nicht tun. Eine nebensächliche Aufgabe, genau richtig für einen Anfänger.
    Der erste Tag war gut gelaufen: Grigori hatte das Tagebuch gefunden, während Peschkowa in ihrem Atelier arbeitete. Nach seiner Durchsuchung hatte er das Beweisstück zurück in sein Versteck im Kamin gelegt, damit Peschkowa nichts von ihrer Überwachung merkte. Als er Bericht erstattete, hatte Leo kurz überlegt, ob für den jungen Mann nicht doch noch Hoffnung bestand; einen rußigen Fingerabdruck als Hinweis zu erkennen war bewundernswert. In den nächsten vier Tagen hielt Grigori die Frau unter ständiger Bewachung und investierte viel mehr Zeit als nötig. Trotz der zusätzlichen Arbeit lieferte er keine Berichte mehr und teilte auch keine Beobachtungen mit. Jetzt behauptete er, das Tagebuch sei wertlos.
    Leo nahm ihm das Tagebuch ab. Er spürte, wie ungern Grigori die Seiten aus der Hand gab. Zum ersten Mal las er selbst darin. Nach einem Blick gab er zu, dass der Inhalt schwerlich so provokativ war, wie das ausgeklügelte Versteck hinter dem Feuer es hatte vermuten lassen. Weil er daraus noch nicht schließen wollte, dass die Verdächtige unschuldig war, blätterte er weiter zum Ende und las die letzten Einträge aus den fünf Tagen, in denen Grigori sie beobachtet hatte. Die Verdächtigte beschrieb darin, wie sie zum ersten Mal mit einem Nachbarn ins Gespräch gekommen war, der in dem Haus auf der anderen Straßenseite wohnte. Sie hatte ihn noch nie gesehen, aber der Mann war auf sie zugekommen, und sie hatten sich auf der Straße unterhalten. Sie schrieb, der Mann habe Humor, und sie hoffte, sie würde ihn irgendwann wiedersehen, bevor sie verschämt hinzufügte, dass sie ihn attraktiv fand.
    Hat er mir gesagt, wie er heißt? Ich weiß es nicht mehr. Er hat es bestimmt getan. Wieso bin ich nur so vergesslich? Ich war abgelenkt. Ich wünschte, ich könnte mich an seinen Namen erinnern. Jetzt ist er bestimmt beleidigt, wenn wir uns noch einmal sehen. Falls wir uns noch einmal sehen, was ich hoffe.
    Leo blätterte die Seite um. Am nächsten Tag wurde ihr Wunsch erfüllt, sie lief dem Mann wieder über den Weg. Sie entschuldigte sich für ihr schlechtes Gedächtnis und bat ihn, ihr noch einmal seinen Namen zu nennen. Er sagte, er würde Isaac heißen, dann gingen sie zusammen weiter und unterhielten sich so ungezwungen, als wären sie schon seit Jahren befreundet. Durch einen glücklichen Zufall war Isaac in die gleiche Richtung unterwegs. Als sie ihr Atelier erreichte, verabschiedete sie sich nur widerwillig von ihm. Ihrem Eintrag zufolge sehnte sie sich schon nach ihrem nächsten Treffen, als er gerade gegangen war.
    Ist das Liebe? Nein, natürlich nicht.
Aber vielleicht fängt so die Liebe an?
    Fängt so die Liebe an? – Das war sentimental und passte zum etwas überspannten Naturell einer Frau, die ein unbedenkliches Tagebuch führte, aber es so sorgfältig versteckte, als ginge es darin um Verrat und Intrigen. Was für ein albernes und gefährliches Vorgehen. Leo brauchte keine Beschreibung des freundlichen jungen Mannes, um zu wissen, wer er war. Er hob den Blick zu seinem Protegé und fragte:
    – Isaac?
    Grigori zögerte. Dann
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