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Agent 6

Titel: Agent 6
Autoren: Tom Rob Smith
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einmal beschützen.

Moskau
Moskvoretsky-Brücke
KM-Straßenbahn
Am selben Tag
    Leo hauchte die Fensterscheibe an, bis sie beschlug. Wie ein Kind drückte er eine Fingerspitze auf die feuchte Scheibe und malte gedankenlos die Umrisse der Freiheitsstatue nach – eine plumpe Version der Zeichnung, die er heute gesehen hatte. Schnell wischte er sie mit dem dicken Jackenärmel weg und sah sich um. Niemand außer ihm hätte die Gestalt erkennen können, außerdem war die Straßenbahn so gut wie leer. Es gab nur einen weiteren Fahrgast, einen Mann, der vorne saß und sich gegen die Kälte in so viele Lagen Kleidung gehüllt hatte, dass von seinem Gesicht nur ein winziger Fleck sichtbar blieb. Nachdem Leo sicher war, dass niemand seine Zeichnung bemerkt hatte, entspannte er sich wieder. Normalerweise war er extrem vorsichtig, er konnte kaum glauben, dass er sich einen so gefährlichen Ausrutscher erlaubt hatte. Aber er hatte in letzter Zeit viel zu oft mitten in der Nacht Verhaftungen vornehmen müssen und bekam, auch wenn er nicht im Dienst war, viel zu wenig Schlaf.
    Außer in den frühen Morgenstunden und am späten Abend waren die Straßenbahnen immer überfüllt. Mit einem breiten aufgemalten Streifen in der Mitte rasselten sie wie riesige Bonbons durch die Stadt. Oft musste Leo sich regelrecht hineinquetschen, bei fünfzig Sitzplätzen fuhren meist doppelt so viele Fahrgäste mit. An diesem Abend wäre Leo ein unbequem voller Wagen lieber gewesen, mit Ellbogen, die ihm in die Seite gerammt wurden, und Leuten, die sich vorbeidrängten. Stattdessen folgte dem Luxus eines leeren Sitzplatzes das Privileg, in eine leere Wohnung heimzukehren – die er sich, auch das eine Vergünstigung seines Berufs, mit niemandem teilen musste. Der gesellschaftliche Rang eines Mannes wurde mittlerweile darüber definiert, wie viel leerer Raum ihn umgab. Bald würde man ihm ein eigenes Auto zuteilen, eine größere Wohnung, vielleicht sogar eine Datscha auf dem Land. Immer mehr Platz, immer weniger Kontakt zu den Menschen, die er überwachen sollte.
    Leo fielen wieder die Worte ein:
    Fängt so die Liebe an?
    Er war noch nie verliebt gewesen, nicht so, wie es im Tagebuch beschrieben war – dass er sich darauf freute, eine Frau wiederzusehen, und traurig war, sobald sie ging. Grigori hatte für eine Frau, die er kaum kannte, sein Leben riskiert. Musste das nicht Liebe sein? Liebe schien sich wirklich durch Tollkühnheit zu definieren. Leo hatte sein Leben viele Male für sein Land riskiert. Er hatte enormen Einsatz und Tapferkeit bewiesen. Wenn Liebe Aufopferung bedeutete, war der Staat seine einzig wahre Liebe. Und der Staat hatte ihn auch geliebt wie einen Sohn, er hatte ihn belohnt und ihm Macht verliehen. Es war undankbar und eine Schande, auch nur einen Moment lang zu denken, diese Liebe wäre nicht genug.
    Er schob beide Hände unter die Beine, weil er sich einen Hauch Wärme erhoffte. Als er keine fand, überlief ihn ein Schauder. Seine Stiefelsohlen platschten in die flachen Pfützen, die der geschmolzene Schnee auf dem Stahlboden der Straßenbahn gebildet hatte. Er fühlte eine Schwere in der Brust, als würde er unter einer Grippe leiden, deren einzige Symptome Müdigkeit und ein dumpfer Geist waren. Am liebsten hätte er sich gegen das Fenster gelehnt, die Augen geschlossen und geschlafen, aber das Glas war zu kalt. Er wischte ein Stück der beschlagenen Scheibe frei und spähte hinaus. Die Straßenbahn überquerte die Brücke und fuhr durch Straßen voller Schneewehen. Und es schneite weiter, dicke Flocken trafen das Fenster.
    Dann wurde die Straßenbahn langsamer und hielt. Die Türen vorne und hinten öffneten sich klappernd, Schnee wehte herein. Der Fahrer drehte sich zu der offenen Tür um und rief hinaus in die Nacht:
    – Beeilung! Worauf warten Sie noch?
    Eine Stimme antwortete:
    – Ich trete mir den Schnee von den Stiefeln!
    – Sie lassen mehr Schnee rein, als Sie abtreten. Steigen Sie jetzt ein, sonst mache ich die Türen zu!
    Der Fahrgast stieg ein. Es war eine Frau mit einer schweren Tasche, an ihren Stiefeln klebten Schneebrocken. Als sich die Türen hinter ihr schlossen, sagte sie zum Fahrer:
    – So warm ist es hier drin aber auch nicht.
    Der Fahrer zeigte nach draußen:
    – Wollen Sie lieber laufen?
    Mit einem Lächeln nahm sie der Situation die Spannung. Der brummige Fahrer ließ sich von ihrem Charme einnehmen und lächelte zurück.
    Als die Frau sich umdrehte und im Wagen umsah, blieb Leos Blick an
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