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Agent 6

Titel: Agent 6
Autoren: Tom Rob Smith
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abgestellt hatten, liefen Leo und Grigori durch den Schnee auf den prunkvollen Eingang zu. Leo trat ein, knöpfte seine Jacke auf und zeigte seine Papiere vor. Beide Namen wurden mit der Liste derjenigen abgeglichen, denen Zugang zum Haus gewährt war. Sie gingen nach unten in den Keller, wo ein Agententeam rund um die Uhr zur Überwachung saß. Die Technik war schon lange vor Austins Besuch installiert worden. Weil einige der wichtigsten Köpfe der sowjetischen Gesellschaft in diesem Haus wohnten, war es für den Staat unerlässlich zu wissen, was sie taten und worüber sie sprachen. Austin würde fünf Etagen über ihnen einziehen, in eine Wohnung mit einer Abhörvorrichtung in jedem Zimmer. Zum Überwachungsteam gehörte auch ein Übersetzer – einer von dreien, die in Achtstundenschichten arbeiteten. Außerdem hatte man eine attraktive Agentin in der Wohnung selbst postiert, die als vorgebliche Bewohnerin in einem eigenen Zimmer schlief. Sie gab sich als Witwe aus, deren Mann im Großen Vaterländischen Krieg gefallen war. Nach Austins Profil zu urteilen wäre er für eine solche Geschichte besonders zugänglich. Er hasste den Faschismus mehr als alles andere und hatte oft gesagt, der Untergang des Faschismus sei vor allem ein Sieg Russlands gewesen, erkauft mit kommunistischem Blut.
    Leo sah die Abschriften von Austins Gesprächen seit seiner Ankunft durch – eine Chronologie der zehn Stunden, die er in der Wohnung verbracht hatte. Er hatte zwanzig Minuten im Bad verbracht und fünfundvierzig Minuten beim Essen. Mit der Agentin hatte er sich über den Vaterländischen Krieg unterhalten. Austin sprach hervorragend Russisch, er hatte die Sprache nach seinem Besuch 1934 gelernt. Dass ihr Gast ihre Sprache verstand, wertete Leo als zusätzliche Komplikation. Dadurch konnten die Agenten nicht offen miteinander reden. Austin würde jeden Ausrutscher bemerken. In den Abschriften sah Leo, dass sich ihr Gast offenbar schon darüber gewundert hatte, warum eine einzelne Person eine so riesige Wohnung besaß. Die Agentin hatte geantwortet, das sei eine Belohnung für den tapferen Kriegseinsatz ihres Mannes. Nach dem Essen hatte Austin seine Frau angerufen und zwanzig Minuten lang mit ihr telefoniert.
    AUSTIN: Ich wünschte wirklich, du könntest hier sein. Ich wünschte, du könnest alles erleben, was ich erlebe, und mir sagen, ob ich blind bin. Ich habe Angst, dass ich die Dinge so sehe, wie ich sie sehen will, und nicht, wie sie sind. Ich bräuchte jetzt deinen Instinkt.
    Seine Frau hatte geantwortet, sein eigener Instinkt habe ihn noch nie im Stich gelassen und sie liebe ihn sehr.
    Leo gab Grigori die Abschrift.
    – Er hat sich verändert. Er ist nicht mehr der gleiche Mann, den wir bei den Bauern gesehen haben. Offenbar macht er eine Vertrauenskrise durch.
    Grigori las die Seiten, dann gab er sie Leo zurück.
    – Glaube ich auch. Es sieht nicht gut aus.
    – Deshalb hat er bis zum letzten Moment gewartet, um eine andere Unterkunft zu verlangen.
    Die Agentin, die den Part der Witwe übernommen hatte, betrat den Überwachungsraum. Leo wandte sich zu ihr um und fragte:
    – War er an Ihnen interessiert?
    Sie schüttelte den Kopf.
    – Ich habe eine paar zweideutige Bemerkungen gemacht. Entweder ist es ihm nicht aufgefallen, oder er hat sie komplett ignoriert. Ich habe so getan, als würde mich der Gedanke an meinen toten Mann traurig machen. Er hat mich in den Arm genommen, aber das war nichts Sexuelles.
    – Sind Sie sicher?
    Grigori verschränkte die Arme.
    – Was bringt es, wenn wir ihm eine Falle stellen?
    Leo antwortete:
    – Wir wollen nicht über ihn urteilen. Aber wir müssen unsere Freunde kennen, wenn wir sie schützen wollen. Wir sind nicht die Einzigen, die ihm nachspionieren.
    In der Ecke hob ein Agent die Hand.
    – Er ist wach.
    *
    Die Parteifunktionäre versammelten sich in der marmornen Eingangshalle – eine kleine Gruppe Männer von mittlerem Rang in mittlerem Alter, lächelnde Anzugträger, genau wie jene, die Austin das Bauerndorf gezeigt hatten. So wichtig Austin auch war, hatte man sich doch gegen Treffen mit hochrangigen Sowjets entschieden, weil das vielleicht dem FBI in die Hände gespielt hätte. Sie hätten Austin als Russenfreund hinstellen können, der sich nur für die Elite interessierte, statt vom System an sich begeistert zu sein.
    Austin tauchte am Fuß der Treppe auf, in einem knielangen Mantel, Schneestiefeln und einem Schal. Leo begutachtete seine maßgeschneiderte
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