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Agent 6

Titel: Agent 6
Autoren: Tom Rob Smith
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Sanatorien für seine Angestellten gebaut. Allerdings war Mr. Austins Vater kein Angestellter der Metropolitan Life Insurance Company. Er konnte sich kein Sanatorium leisten. Mr. Austin ist heute noch überzeugt, dass ein Aufenthalt dort seinem Vater das Leben gerettet hätte. Das könnte ein weiterer wichtiger Schritt in Mr. Austins politischer Entwicklung sein. Er hat seinen Vater sterben sehen, und zwar in einem Land, in dem die medizinische Versorgung vom Arbeitsplatz abhängt und der Arbeitsplatz von der Hautfarbe und dem Zufall der Geburt.
    Dieses Mal hob Leo die Hand. Kuzmin nickte ihm knapp zu.
    – Wenn das der Fall ist, warum werden dann nicht mehr Amerikaner Kommunisten?
    – Das ist eine außerordentlich wichtige Frage, die uns Rätsel aufgibt. Wenn Ihnen die Antwort einfällt, können Sie meinen Posten haben.
    Kuzmin lachte, ein seltsamer, erstickter Laut. Dann sprach er weiter.
    – Mr. Austin ist zwar voll des Lobes über seine Mutter, aber sie musste nach dem Tod des Vaters bei der Arbeit viele Schichten übernehmen. Weil er häufig allein war, fing er an zu singen, um sich zu beschäftigen, und aus der kindlichen Freude wurde eine Karriere. Seine Musik und seine selbst geschriebenen Lieder waren dabei nie von der Politik zu trennen. In seinen Augen sind sie ein und dasselbe. Anders als viele Negersänger hat Jesse Austins Musik ihre Wurzeln nicht in der Kirche, sondern im Kommunismus. Der Kommunismus ist seine Kirche.
    Dann legte Major Kuzmin eine Schallplatte auf, und sie hörten sich Mr. Austin an. Leo verstand den Text nicht, aber er begriff, warum Kuzmin, misstrauisch wie kein Zweiter, von der Ernsthaftigkeit des Sängers überzeugt war. Austin besaß die ehrlichste Stimme, die Leo je gehört hatte. Die Worte schienen direkt aus seinem Herzen zu strömen, ohne durch Vorsicht oder Berechnung gezügelt zu werden. Kuzmin stellte die Musik aus.
    – Mr. Austin ist zu einem unserer wichtigsten Agitatoren geworden. Er singt nicht nur polemische Lieder und hat hohe Verkaufszahlen, er ist auch ein hervorragender Redner und auf der ganzen Welt bekannt. Seine Musik hat ihn berühmt gemacht und seinen politischen Ansichten eine internationale Bühne verschafft.
    Kuzmin winkte dem Filmvorführer.
    – Das hier sind Aufnahmen einer Rede, die er 1937 in Memphis gehalten hat. Sehen Sie genau hin. Es gibt keine Übersetzung, aber achten Sie auf die Reaktionen des Publikums.
    Die Filmrolle wurde gewechselt, dann surrte der Projektor wieder. Die neuen Aufnahmen zeigten einen Konzertsaal mit Tausenden von Besuchern.
    – Wie Sie sehen, sind alle Zuschauer weiß. In den amerikanischen Südstaaten gab es Gesetze, nach denen entweder nur Weiße oder nur Schwarze eine Veranstaltung besuchen durften. Integration fand nicht statt.
    Mr. Austin stand im Smoking auf der Bühne und redete vor der großen Menge. Einige Zuschauer gingen hinaus, andere riefen dazwischen. Kuzmin deutete auf diejenigen, die den Saal verließen:
    – Interessant ist, dass sich viele Leute in diesem weißen Publikum gerne seine Musik anhören. Sie sitzen da, klatschen, Austin bekommt sogar Ovationen. Allerdings kann er kein Konzert beenden, ohne eine politische Rede zu halten. Sobald er anfängt, über den Kommunismus zu reden, stehen die Leute auf und gehen oder beleidigen ihn. Aber sehen Sie sich dabei Mr. Austins Gesicht an.
    Austin ließ sich keine Enttäuschung anmerken. Die Ablehnung der Leute im Saal schien ihn aufblühen zu lassen, seine Gesten wurden immer sicherer, seine Rede geriet keine Sekunde ins Stocken.
    Kuzmin schaltete das Licht ein.
    – Ihr Auftrag ist von entscheidender Bedeutung. Die amerikanische Obrigkeit setzt Mr. Austin verstärkt unter Druck, weil er weiterhin unser Land unterstützt. Diese Akten enthalten Artikel von ihm, die amerikanische sozialistische Zeitungen veröffentlicht haben. Sie werden selbst sehen, wie provozierend sie auf eine etablierte konservative Klasse wirken müssen. Sie rufen zu Veränderungen auf und verlangen eine Revolution. Unsere Sorge ist jetzt, dass Austin seinen Pass verlieren könnte. Vielleicht ist das sein letzter Besuch.
    Leo fragte:
    – Wann kommt er an?
    Kuzmin stellte sich nach vorn und verschränkte die Arme.
    – Heute Abend. Er bleibt zwei Tage in Moskau. Morgen wird ihm die Stadt gezeigt. Abends gibt er ein Konzert. Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass nichts schiefläuft.
    Leo war erschrocken. Das ließ ihm extrem wenig Zeit für Vorbereitungen. Vorsichtig
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