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Agent 6

Titel: Agent 6
Autoren: Tom Rob Smith
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Kleidung. Sie war nicht auffällig, aber fraglos von bester Qualität. Jesse Austin war ein wohlhabender Mann. Berichte schätzten sein Jahreseinkommen auf über siebzigtausend Dollar. Als Austin den Empfang betrachtete, den man ihm bereitet hatte, sah Leo ihm einen Hauch von Missfallen an. Vielleicht fühlte er sich bedrängt und zu sehr beschirmt. Er sprach die Männer auf Russisch an:
    – Warten Sie schon lange?
    Er sprach hervorragend Russisch, behielt aber seine amerikanische Satzmelodie bei, und obwohl er den Akzent gut traf, klangen die Wörter bei ihm fremd. Der ranghöchste Funktionär trat vor und antwortete auf Englisch. Austin unterbrach ihn:
    – Reden wir doch Russisch. Zu Hause spricht niemand die Sprache. Wo soll ich sie sonst üben?
    Er erntete Gelächter. Der Parteifunktionär lächelte und schaltete auf Russisch um.
    – Haben Sie gut geschlafen?
    Austin antwortete, das habe er, und ahnte dabei nicht, dass alle die Antwort längst kannten.
    Die Gruppe verließ das Haus an der Uferstraße und führte ihren Gast durch den Schnee zu einer Limousine. Leo und Grigori trennten sich vom Rest und gingen zu ihrem eigenen Auto. Sie wollten den anderen folgen und am Ziel wieder zu ihnen stoßen. Als Leo die Tür öffnete, blickte er zurück und sah, wie Austin die Limousine verächtlich musterte. Dann sagte er etwas zu den Parteifunktionären. Leo konnte sie nicht verstehen, doch es gab offensichtlich eine Meinungsverschiedenheit. Die Funktionäre schienen zu zögern. Ohne auf ihre Einwände zu hören, lief Austin von der Limousine herüber zu Leo und Grigori:
    – Ich will nicht hinter getönten Scheiben herumgefahren werden! Wie viele Russen fahren denn solche Autos!
    Einer der Funktionäre holte ihn ein.
    – Mr. Austin, wäre es für Sie im Diplomatenwagen nicht bequemer? Das hier ist nur ein einfacher Dienstwagen, mehr nicht.
    – Einfacher Dienstwagen klingt doch sehr gut!
    Der Funktionär war perplex, dass der sorgfältig vorbereitete Plan über den Haufen geworfen wurde. Er lief zu den anderen und besprach die Sache mit ihnen. Dann kam er zurück und nickte.
    – In Ordnung, Sie und ich fahren bei Offizier Demidow mit. Die anderen fahren in der Limousine voraus.
    Leo öffnete die Tür und bot Austin den Beifahrersitz an. Aber Austin schüttelte wieder den Kopf.
    – Ich setze mich nach hinten. Ich will Ihrem Kollegen nicht den Platz wegnehmen.
    Als Leo den Gang einlegte, warf er im Rückspiegel einen Blick auf den hochgewachsenen Austin, der sich in das enge Auto gequetscht hatte. Der Funktionär betrachtete unzufrieden die spärliche Ausstattung.
    – Diese Autos sind extrem schlicht gehalten. Sie dienen der Arbeit, nicht dem Vergnügen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie im Vergleich zu vielen amerikanischen Autos schlecht abschneiden. Aber wir brauchen hier keinen Überfluss.
    Mit dieser Ansicht hätte er vielleicht mehr Eindruck gemacht, wenn er nicht ein paar Minuten zuvor noch versucht hätte, seinen Gast mit einer luxuriösen Limousine zu beeindrucken. Austin antwortete:
    – Es bringt einen hin, oder?
    Der Funktionär lächelte, um seine Verwirrung zu überspielen.
    – Wohin?
    – Dahin, wo auch immer Sie mich bringen wollen.
    – Ja, das tut es. Hoffentlich!
    Der Funktionär lachte. Austin nicht. Er mochte diesen Mann nicht. Schon jetzt lösten sich ihre schönen Pläne in Luft auf.

Moskau
Gastronom Nr. 1
Feinkostladen Jelissejew
Twerskaja 14
Am selben Tag
    Gastronom Nr. 1 war das exklusivste Geschäft, das die Stadt zu bieten hatte, und stand nur der Elite offen. Die aufwendig gestalteten Wände waren mit Blattgold verziert. Die Säulen im Raum bestanden aus Marmor und besaßen kunstvoll geschmückte Kapitelle – Prunk, wie man ihn eher in einem Palast erwartet hätte. Er bildete eine majestätische Kulisse für polierte und mit dem Etikett nach vorn ausgerichtete Lebensmittelkonserven, für frisches Obst, das in Mustern zurechtgelegt war, für Spiralen aus Äpfeln und Berge dicker Kartoffeln. Das Geschäft war tagelang hergerichtet worden. Jeder Gang quoll vor Waren über, man hatte die Lagerräume geplündert, alles hervorgeholt und akribisch aufgebaut. Leo erkannte sofort, dass es ein Fehler gewesen war hierherzukommen. Man hatte den Gast aus Amerika grundlegend missverstanden. Der Laden zeigte kein Modell der neuen Gesellschaft, er verkörperte die Vergangenheit – eine Momentaufnahme des überbordenden Reichtums aus der Zeit der Zaren. Trotzdem strahlte die Horde
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