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Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Titel: Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Autoren: Norbert F. Schaaf
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Wolke verbarg mit gleißenden Rändern die nicht mehr hochstehende Sonnenscheibe, und der Händler stand im Schutz eines Pfeilers vor dem Hauseingang.
    Ganz langsam dann stieg der Korb aus hellbraunem Flechtwerk mit zwei oder drei länglichen Brotlaiben darin an der Leine die Hausfassade hoch, die Frau zog offenbar ruhig und beständig die Last in die Höhe, obwohl ihr ja eigentlich die Hände zittern mussten vor Altersschwachheit oder doch vor Angst, einem etwaigen Heckenschützen ein Ziel zu bieten. Der Korb stieg weiter, schwebte leicht schwankend aufwärts, und Anica Klingor verfolgte gebannt den schwerelosen Flug des Brotkorbes, hoffte mit pochendem Herzen, er möge den bedürftigen Menschen erreichen.
    Der Korb erklomm bereits den vierten Stock, atemlose Spannung schwang in der Luft, die fünfte Etage lag in Reichweite, da zerriss ein peitschender Schuss die Ruhe dieser Straße und die Geräuschkulisse des Verkaufsviertels. Habe ich zuerst den Schuss wahrgenommen, fragte sich Anica, und dann den fallenden Korb oder ist es umgekehrt? Sie sah den Korb mit den Brotlaiben hinab in die Tiefe fallen wie Menschen, die vom Balkon stürzen.
    Das geschäftige Gelärm war jäh verstummt, der ältere Mann hastete mit halb hochgezogenen Hosen davon, und augenblicklich war auch der Journalistin die Tragweite des Vorfalls klar. Irgendwo hockte ein Heckenschütze. Er hatte die dünne Wäscheleine zerschossen und damit allen Bewohnern und Besuchern der umliegenden Häuser seine Treffsicherheit bewiesen. Seine makabre Botschaft lautete: Ich bin in der Lage, jedes Ziel zu treffen, und sei es auch noch so klein und unscheinbar; eure Herzen liegen allesamt in meiner Schussweite, ich könnte, wenn ich will, eure Adern einzeln durchtrennen, absolut zielsicher eure Pupillen treffen; ich vermag den Lauf meines Gewehrs auf jedes Fleckchen eurer Leiber zu richten, ganz nach meinem Belieben.
    Als der Brotkorb fiel, fühlte Anica, wie sich das Stadtviertel zu einem einzigen großen Herzen zusammenkrampfte und ein tiefes Stöhnen ausstieß. Ihr kam zum Bewusstsein, dass sie alle Gefangene eines finsteren Hexenmeisters waren, der sich weiß Gott wo verborgen hielt und darüber bestimmte, in welchen Bahnen ihrer aller Blut, ihrer aller Gedanken und Gefühle floss. Und das nur, weil irgendjemand eine Waffe mit Zielfernrohr besaß und ein militärisches Training absolviert hatte.
    Dass alle die Botschaft des Snipers begriffen hatten, war eindeutig. Nirgendwo rührte sich mehr jemand und kein Geräusch war mehr zu hören. Sämtliche Fensterläden waren zugezogen und blieben fortan verschlossen. Die Kugel, die die Wäscheleine durchtrennte, war das Symbol ihrer totalen Gefangenschaft. Alle Fluchtwege, die aus dem Kriegsgeschehen hinausführten, waren abgeschnitten. Schon der Griff nach einem Stück Brot war ein Griff nach den Sternen. Wer es wagte, auch nur einen Fuß auf die Straße zu setzen, dem drohte das Schicksal der Brotlaibe.

3 Savka und Djmal
     
    Hämmernden Herzens, aber auch mit einer gewissen Erleichterung, selbst aller Wahrscheinlichkeit nach in ihrem Hotelzimmer für den Heckenschützen unerreichbar zu sein, dachte Anica an den sicheren Hinterausgang zum Parkplatz des Hotels und stieß die Zimmertür auf. Sie steckte den Kopf mit der gewellten Blondhaarfrisur aus dem Türrahmen und schaute mit ihren ruhigen meerfarbenen Augen in den Gang hinaus, rief: „Djmal!“
    Der kleine hagere Bosnier hockte mit den anderen Jungen auf dem Fußboden. Mit angehobenen Augenbrauen sah der Page zu der Reporterin auf. Sie blickte dem höchstens Fünfzehnjährigen offen in die grüngrauen Augen. Der Junge in der herkömmlichen Kleidung seines heimatlichen Dorfes, in Hemd und Hose aus dunkelblauer Baumwolle, mit wollener, dunkelbrauner Weste und Stoffschuhen mit Hanfsohle, war daran gewöhnt, dass sie nichts weiter trug als den knapp geschnittenen Body. Fast alle Gäste – ausschließlich Fremde – liefen im Sommer so auf ihren Zimmern herum. Auch die Männer trugen meist lediglich Badehose oder sogar Unterwäsche. Niemandem der Ausländer schien es etwas auszumachen, sich derartig dem Hotelpersonal zu zeigen. Beim Putzen hatte die Journalistin ältere Dienstboten, die oft noch den dunkelroten Fez mit zum Teil schwarzer Quaste trugen, sagen hören: „Uns betrachten sie nicht als gleichwertig, sondern als Menschen zweiter Ordnung. Da spielt es keine Rolle, ob man ein Stück bleiche Haut mehr zu sehen bekommt oder nicht. Obwohl unsereins beim
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