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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition)
Autoren: Juli Zeh
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Maria nach mir fasst, schüttele ich den Kopf. In ihrer Miene lese ich, welchen Anblick ich abgebe. Sie fängt schnell und leise an zu sprechen, sagt irgendwas davon, dass ich bleiben soll, dass sie in der Lage ist, mich zu schützen. Ich nehme die Sonnenbrille nicht ab, danke ihr nicht und gehe, bevor sie mich küssen kann.
    Am Abend verstehe ich, wie gut es ist, Jacques Chirac wieder bei mir zu haben. Ich verbiete ihm, vor der Arbeitszimmertür zu liegen. Er frisst nicht, aber ich spüre, dass er sich freut, bei mir zu sein. Er liegt auf der Seite und hechelt, dass sein Körper sich dehnt und zusammenzieht wie ein Blasebalg, der Speichel läuft ihm pfützenweise seitlich zum Maul heraus. Gerne würde ich die Hitze abstellen für ihn, aber ich kann nicht, ich habe nichts zur Erleichterung, für keinen von uns. Deshalb gehen wir spazieren. Es macht ihm keinen Spaß mehr, er läuft nicht freudig voraus, fordert mich nicht zum Spielen auf, aber es lenkt ihn ab. Und mich auch. Es hilft ein bisschen, die Zeit zu verkürzen, bis die Drogen wieder wirken. Jedes Mal, wenn ich kurz vor dem Durchdrehen bin, gehen wir spazieren. Wenn wir zurück in die Wohnung kommen, bleibe ich einen Moment vor dem Telephonschränkchen stehen. Es ist absolut nichts Auffälliges daran. Ich glaube nicht mehr, dass es je bewegt worden ist. Ich glaube auch nicht, dass das Radiomädchen jemals hier war. Ich glaube, dass ich schon seit Wochen so lebe: immer eine kurze Runde mit Jacques Chirac, dann hinlegen und zu schlafen versuchen, liegen bleiben, bis das Hundehecheln mich hochtreibt. Ab und zu klingelt der Wecker hinter den verschlossenen Türen und ich rufe etwas.
    Dann gehen wir wieder eine Runde.

4 Motten
    D ie Senke wird erhellt vom rotgelben Licht der Shell-Tankstelle. Ich lehne an dem verschnörkelten Geländer einer kleinen Brücke. Unter mir liegen Fernwärmerohre wie die fetten Leiber zweier Schlangen, in eine Schneise zwischen Gestrüpp und Unkraut gebettet. Blassgrau streben sie dem Stadtzentrum zu, schnurgerade, an manchen Stellen aber zu Bögen gekrümmt, die aufrecht stehen wie mannshohe Tore oder seitlich liegen im Gras. Jessie hat mich immer gefragt, wozu die meterdicken Rohre solche Krümmungen brauchen, und ich habe etwas von Dehnungsausgleich wegen der Hitze gemurmelt. Ich weiß es einfach nicht. Vielleicht tun sie es nur, damit es bizarr aussieht.
    Der Frischhaltebeutel in meiner linken Hand ist silbern und mit blauen Frostflocken bedruckt. Darin befindet sich ein Magnum Weiß in seinem goldenen Stanniolpapier. Ich habe es an der Tankstelle gekauft, einer plötzlichen Eingebung folgend – obwohl ich es nicht essen will. Natürlich mache ich mich lächerlich, wenn ich Clara das Eis bringe. Es sieht nach einer Nettigkeit aus, die unangemessen ist, solange ich nicht um ihre Freundschaft werben, sie vögeln oder einen Kaufvertrag abschließen will. Es liegt mir nichts daran, dass sie das Eis bekommt. Aber ich selbst ekle mich davor, und Lebensmittel wegwerfen kann ich nicht. Clara ist der einzige Mensch in der Stadt, dem ich nachts um eins ein Eis bringen kann. Jedenfalls mittwochs und sonntags. Ich setze mich also in Bewegung. Jacques Chirac, auf seinen langen Beinen schwebend, neben mir. Er wird lebhafter und läuft ein paar Schritte voraus, als wir die orangefarbenen Lichtkegel der Straßenbeleuchtung verlassen und in den Park eindringen. Die alten Bäume ragen hoch auf und sehen in ihrer Schwärze aus wie die dicken Beine einer Elephantenherde, deren Bauchunterseiten den Nachthimmel bilden. Es ist Grillengezirpe zu hören und das Gemurmel der Studenten, die mit Weinflaschen auf der Wiese liegen.
    Die Luft ist warm. Ich werde mit einer Handvoll weißer Matsche dastehen, wenn ich den Sender erreiche.
    Der Einbruch der Dunkelheit bedeutet immer eine große Erleichterung. Die Straßen leeren sich, der Verkehrslärm verebbt, ich kann ziellos, untätig, ohne den geringsten Nutzen herumschlendern. Auch die anderen haben um diese Zeit nichts Besseres zu tun. Sie sehen fern, ich erkenne den blauen Widerschein ihrer Geräte hinter allen Fenstern, an den Zimmerdecken ihrer Wohnungen. Anhand der Farbgebung und Geschwindigkeit der Bilderwechsel kann ich raten, ob sie Nachrichten gucken, einen Action-Film oder eine Reportage. Auf diese Art stört mich die Anwesenheit der anderen nicht, jetzt ist sie genauso sinnlos wie meine. Von mir aus müsste es nie wieder Tag werden. Die Erde könnte ihre Umlaufbahn verlassen und wegfliegen in die
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