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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition)
Autoren: Juli Zeh
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klettere die Böschung zu den Bahnschienen hinunter. Ein Trampelpfad führt durch hüfthohes, gelbgetrocknetes Gras, zwischen Schierlingspflanzen, deren Blütenstände hoch über meinem Kopf schwanken. Mindestens zehn Schienenstränge laufen parallel, die meisten grasüberwachsen, einige frei. Im Gebüsch neben den Gleisen liegen gelbe oder blaue halb verrottete Müllsäcke, gefüllt mit namenlosem Unrat, einmal erfasst mich eine Wolke fauligen Fleischgestanks. Ich lasse Jacques Chirac nah bei mir gehen. Unter den Bögen zweier Fernwärmerohre beschleunige ich meinen Schritt in der Angst, sie könnten sich herabfallen lassen, meinen Körper zerdrücken und verschlingen. Als das dicke Schienenbündel zu zwei sauberen Spuren zusammenläuft, verlasse ich das Gelände und kehre auf die Straße zurück.
    Der Platz vor dem Hauptgebäude des Senders ist groß und leer, zwei Autos parken in frei gewähltem Abstand darauf, eins von beiden ist auffällig grün wie ein Plastikfrosch, eine Farbe, die garantiert nicht serienmäßig aufgespritzt wird. Am Ende des Platzes sehe ich im erleuchteten Eingangsbereich hinter den Glaswänden den Pförtner sitzen. Ich nähere mich dem grünen Auto, ein klappriger Ascona, und schon von weitem fällt mir auf, dass das Nummernschild außer Schwarz und Weiß auch ein wenig Rot enthält. Ich will es trotzdem nicht glauben, gehe näher heran und beuge mich zum Kennzeichen hinunter. Es stimmt. Der Wagen ist in Wien zugelassen. Warum auch nicht. Trotzdem bleibt eine Unruhe zurück, die sich in Wut zu kehren beginnt, in eine unerklärbare, sinnlose und eigentlich nicht besonders starke Wut.
    Der Pförtner schaut misstrauisch. Es ist zwei Uhr, und ich erwarte gar nicht, sie noch anzutreffen. In die geschlitzte Sprechanlage sage ich ihren Namen, dann meinen. Er telephoniert kurz, die Tür summt. Er lächelt sogar Jacques Chirac zu, als wir vorbeigehen. Er öffnet sein Häuschen und ruft uns »Zweiter Stock« hinterher.
    Im Fahrstuhl betrachte ich mein Bild in der Spiegelwand. Meine Gesichtsfarbe wäre vermutlich auch schon ohne die Neonbeleuchtung nicht besonders schön. Immer schon habe ich von Spiegeln in öffentlichen Räumen geglaubt, sie seien von der Rückseite her durchsichtig und irgendjemand nehme dort die Blicke derer entgegen, die sich in die eigenen Augen schauen.
    Die Tür öffnet sich jetzt, sagt eine digitale Frauenstimme vom Band, zweiter Stock.
    Als die Aufzugtür sich hinter mir geschlossen hat, ist alles dunkel. Absolut kein Geräusch. Ich bleibe stehen, halte Jacques Chirac am Halsband und warte darauf, dass meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen, dass sich irgendeine Art von Orientierung einstellt. Schließlich sehe ich einen Lichtschimmer linker Hand und gehe darauf zu. Ich betrete einen Raum und stoße krachend an einen Gegenstand; es ist ein Mischpult. Ich erkenne eine weitere offene Tür, aus der das grünliche Licht fällt. Es kommt von einem Computermonitor. Clara sitzt davor mit dem Rücken zu mir, eine dunkle Silhouette. Ein Fenster steht offen. Motten, Nachtfalter, Fliegen in allen Größen kriechen über den Bildschirm wie zum Leben erwachte Satzzeichen. Ich bleibe stehen und lehne mich gegen den Türrahmen.
    Hey, sagt sie.
    Sie dreht sich nicht um. Es gibt eigentlich nichts zu sagen. Ich zünde eine Zigarette an. Es ist still bis auf das Klappern der Tastatur. Sie schreibt schnell wie eine Sekretärin. Ich bemühe mich nicht, den Text zu lesen, es genügt zu beobachten, wie sich die Zeilen vorwärts schieben, ein Wurm, der aus sich selbst herausgestülpt wird, dann abbricht und einen halben Zentimeter tiefer ganz links wieder beginnt, seinen Anfang aus einem einzigen Buchstaben entwickelnd wie aus einem kleinen schwarzen Ei. Es hat etwas Hypnotisierendes.
    Der Raum ist eng und vollgestellt mit Geräten, deren Nutzen ich nicht kenne. Alles, inklusive Claras Rücken und mir, sieht unwirklich aus im Schein des Monitors; das glühende Ende meiner Zigarette scheint der einzige natürliche, organische Punkt im Raum zu sein. Ich kenne dieses Mädchen nicht. Sie war zweimal in meiner Wohnung. Jacques Chirac ist vor der Tür geblieben und atmet leiser als sonst. Ich raschele mit dem silbernen Frischhaltebeutel.
    Ich habe dir was mitgebracht, sage ich.
    Die Luft geht mir aus, bevor der kurze Satz zu Ende ist. Es klingt noch alberner, als ich befürchtet habe.
    Was ist es, sagt sie.
    Auf meiner Stirn bilden sich Schweißperlen, das bloße Existieren in diesem Raum
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