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Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut

Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut

Titel: Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
Autoren: P. D. James
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buntgewürfelten Tagesdecke, unter der sie nur das Kissen vorgezogen hatte, um ihren Kopf darauf zu betten, als ob sie dieses letzten Trostes bedurft hätte, ehe sie das Bewußtsein verlor. Neben dem Bett standen auf einem Stuhl eine leere Weinflasche, ein benutztes Glas und eine Arzneiflasche mit Schraubverschluß. Ein Paar braune Schnürschuhe waren ordentlich nebeneinander unter den Stuhl geschoben. Vielleicht hat sie die Schuhe ausgezogen, weil sie die Decke nicht schmutzig machen wollte, dachte Mandy. Aber nun war die Decke doch versaut, und das Kissen auch. Erbrochenes klebte wie die Schleimspur einer Riesenschnecke an der linken Wange der Frau und war auf dem Kissenbezug zu einer steifen Kruste getrocknet. Hinter den halbgeöffneten Lidern der Toten war die Iris nach oben verdreht, die grauhaarige Ponyfrisur war kaum in Unordnung geraten. Die Frau trug einen braunen, hochgeschlossenen Pullover und einen Tweedrock, unter dem die dünnen, seltsam verrenkten Beine wie zwei Stöcke hervorragten. Ihr linker Arm war weit ausgestreckt und berührte fast den Stuhl, der rechte lag über ihrer Brust. Die rechte Hand hatte offenbar kurz vor dem Ende noch an dem dünnen Wollpullover herumgezupft und ihn dabei soweit hochgeschoben, daß jetzt ein paar Zentimeter des weißen Unterhemds herausschauten. Neben der leeren Arzneiflasche lag ein quadratischer Umschlag, der in energischer schwarzer Schrift adressiert war.
    So ehrfürchtig, als wäre sie in der Kirche, flüsterte Mandy: »Wer ist das?«
    Miss Etiennes Stimme klang gefaßt. »Sonia Clements. Eine unserer Lektorinnen.«
    »Hätte ich für sie arbeiten sollen?«
    Kaum daß sie die Frage gestellt hatte, begriff Mandy, wie überflüssig das jetzt war, aber Miss Etienne antwortete trotzdem. »Zu Anfang ja, aber nur kurze Zeit. Sie wäre zum Monatsende ausgeschieden.«
    Als sie den Brief an sich nahm, schien Miss Etienne ihn einen Moment lang wie prüfend in der Hand zu wiegen. Mandy dachte: Sie würde ihn gern aufmachen, aber nicht in meiner Gegenwart. Nach kurzem Zögern sagte Miss Etienne: »Adressiert an den Coroner, den gerichtsmedizinischen Gutachter. Aber es ist ja auch so klar, was hier passiert ist. Tut mir leid, daß Sie das mit ansehen mußten, Miss Price. So ein Schock – wirklich rücksichtslos von ihr. Wenn man sich schon umbringen will, dann sollte man das in seinen eigenen vier Wänden tun.«
    Mandy dachte an die enge Häuserzeile in Stratford East, an die Gemeinschaftsküche und das einzige Bad und an ihr kleines Hinterzimmer in einem Haus, in dem man schon eine Portion Glück brauchte, um auch nur unbemerkt die Tabletten zu schlucken, geschweige denn daran sterben zu können, ohne daß einen vorher jemand fand. Sie zwang sich, der Frau noch einmal ins Gesicht zu sehen, und hatte plötzlich das Bedürfnis, ihr die Augen und den leicht offenstehenden Mund zu schließen. Das also war der Tod, oder vielmehr so sah er aus, bevor der Leichenbestatter Hand anlegte. Mandy hatte bis jetzt erst einmal eine Leiche gesehen – ihre Großmutter, die in ihrem Totenhemd mit dem gefältelten Stehkragen so adrett im Sarg gelegen hatte wie eine Puppe im Geschenkkarton; nur viel kleiner hatte sie ausgesehen, und ihr Gesicht war so friedlich gewesen wie zu Lebzeiten niemals, vielleicht weil man ihr die klugen, rastlosen Augen geschlossen und die überfleißigen Hände in beschaulicher Ruhe gefaltet hatte. Plötzlich überfluteten sie Trauer und Mitleid, ausgelöst durch einen verspäteten Schock oder die unerwartet lebhafte Erinnerung an die Großmutter, die sie wirklich geliebt hatte. Als die ersten heißen Tränen hinter ihren Lidern brannten, wußte sie nicht einmal genau, ob sie der Großmama galten oder dieser Fremden, die ihren Blicken so wehrlos ausgeliefert war. Mandy weinte nicht oft, aber wenn ihr einmal die Tränen kamen, dann gab es kein Halten mehr. Nur ja hier nicht die Fassung verlieren! Die Blamage wäre nicht auszudenken. Verzweifelt sah sie sich um, und da fiel ihr Blick auf etwas Vertrautes, etwas, vor dem man sich nicht zu fürchten brauchte und womit sie umgehen konnte, gleichsam ein Garant dafür, daß draußen, jenseits dieser Todeszelle, die normale Welt weiterbestand. Auf dem Tisch lag ein kleines Diktiergerät.
    Mandy ging hin und nahm es so andächtig in die Hand, als wäre es eine Ikone. »Ist da das Band drin, das ich abschreiben soll?« fragte sie. »Ist es ein Verzeichnis? Möchten Sie es tabellarisiert?«
    Miss Etienne musterte sie einen
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