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Achtung Denkfalle! - die erstaunlichsten Alltagsirrtümer und wie man sie durchschaut

Achtung Denkfalle! - die erstaunlichsten Alltagsirrtümer und wie man sie durchschaut

Titel: Achtung Denkfalle! - die erstaunlichsten Alltagsirrtümer und wie man sie durchschaut
Autoren: C.H.Beck
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Pivato-Beispiel
    Die Borda-Auszählung einer Wahl ist eine Nuancierung von Mehrheitsentscheid, Spitzenduo- und Spitzentrio-Methode (allgemein von jeder k-Spitzenreiter-Methode). Borda war der Ansicht, dass der Wählerwille präziser in ein Punktesystem übertragen werden sollte, als es mit den herkömmlichen Methoden möglich sei. Daran mangelt es den bisherigen Methoden noch hinten und vorne.
    Doch wer die Borda-Methode zum Nonplusultra erklären will, hat seine Rechnung ohne das Milchmädchen gemacht. Auch die Borda-Methode hat ihre Nachteile. Ganz eklatant leidet sie an der Sensitivität gegenüber irrelevanten Alternativen, die wir als Manko bereits im Einstieg zu diesem Kapitel erwähnt haben. Ferner lädt sie geradewegs zu taktischem Verhalten ein.Viele Wähler könnten etwa die gefährlichsten Gegner ihres favorisierten Kandidaten ganz nach hinten auf ihren Listen platzieren, unabhängig von ihren eigenen Einstellungen diesen Kandidaten gegenüber. Auf diese Weise kann es zu durchaus starken Verzerrungen des Wahlergebnisses kommen.

    Abbildung 60: «Lass uns bei dieser Wahl einmal für das größere Übel stimmen und sehen, was passiert.» Cartoon von Vahan Shirvanian.
    Selbst Borda hatte diese Verzerrungen schon in seinen Schriften thematisiert und sogar explizit darauf hingewiesen, dass es ein Verfahren nur für ehrliche Wähler sei. Andere Wissenschaftler hatten weitere sensible Punkte ausgemacht. Auch der Marquis de Condorcet (1743–1794), dem wir schon an früherer Stelle begegnet sind, hatte sich eingehend mit der Borda-Methode beschäftigt und als Ergebnis dieser Beschäftigung sein eigenes Wahlsystem formuliert. Als Grundprinzip vertrat er eine Ansicht, die er so formulierte: «Es soll jeder Wähler seinen Willen vollständig ausdrücken, indem er jeweils zwei Kandidaten vergleicht, und aus dem Ergebnis der Mehrheitsentscheidungen für alle diese Vergleiche soll der allgemeine Wille abgeleitet werden.»[ 38 ]
    Ein faires Wahlsystem sollte also nach Condorcet denjenigen Kandidaten K als Gesamtsieger herbeiführen, der jeden anderen Kandidaten in einem Stichkampf besiegt. Ein solcher Kandidat K wird als
Condorcet-Sieger
der Wahl bezeichnet. Das hört sich vernünftig an. Finden wir einen solchen, so sind wir aus dem Schneider. Und ganz fugenlos glücklich. Doch leider wird just an dieser Stelle ein Einwand fällig. Ein Problem besteht nämlich darin, wie wir bereits Gelegenheit hatten festzustellen, dass der Condorcet-Sieger nicht immer existiert. Doch wenn er existiert, dann sollte ein Wahlsystem ihn auch als Sieger ausweisen. Das ist eine naheliegende Fairness-Forderung an Wahlsysteme. Die Borda-Methode dagegen hat nicht diese wünschenswerte Eigenschaft. Das sieht man schon an einem einfachen Beispiel:
Borda-Zählung
Präferenzen
Prozente
A
B
C
A > B > C
  55
110
  55
 
B > C > A
  45
 
  90
45
Gesamt
100
110
145
45
Ergebnis
B ist Gesamtsieger!
    Tabelle 30: Der Borda-Sieger ist nicht immer der Condorcet-Sieger.
    Der Sieger bei der Borda-Auszählung ist B. Der Condorcet-Gewinner ist aber A, denn er besiegt sowohl B als auch C mit 55:45 Prozentpunkten. Wenn C disqualifiziert würde oder sich aus der Wahlentscheidung zurückzöge, dann wäre plötzlich A der Borda-Gewinner mit 55:45 Punkten, der Sensitivität von irrelevanten Alternativen abermals vor Augen führt, das wir schon im Vorspann ansprachen. A ist übrigens auch der Gewinner durch Mehrheitsentscheid, hier sogar ganz glatt und mit absoluter Mehrheit.
    Das war unsere Querbeetpflügung des wahlmethodischen Theoriefeldes. Kurzum und jedenfalls: Ich hoffe, Sie sind nun gebührend desillusioniert im Hinblick auf die Vorurteilsfreiheitvon Wahlentscheidungen. Es ist schon eine Crux mit ihnen. Die bisherige Diskussion zeigt, wie schwierig es ist, auf diesem Terrain endgültige Standpunkte einzunehmen. Wer Sieger einer Wahl wird, hängt bisweilen ganz entscheidend vom Abstimmungsverfahren ab. Der heute stark 70-jährige französische Mathematiker und Wahlforscher Michel Balinski hat ein Beispiel vom Allerfeinsten ausgeheckt, das dies eindrucksvoll unterstreicht und schlauerdings alles Bisherige nochmals überbietet. Mit ihm kommt ein wahlsystematisches Urerlebnis zustande. Es handelt sich um eine Wahlentscheidung zwischen fünf Kandidaten A, B, C, D, E.
Prozente
33
16
3
8
18
22
Reihenfolge der Präferenzen
A
B
C
C
D
E
B
D
D
E
E
C
C
C
B
B
C
B
D
E
A
D
B
D
E
A
E
A
A
A
    Tabelle 31: Balinski-Beispiel einer Wahl zwischen fünf
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