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Acacia 02 - Die fernen Lande

Acacia 02 - Die fernen Lande

Titel: Acacia 02 - Die fernen Lande
Autoren: David Anthony Durham
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festgetrampelten Boden wand. Der Mann fluchte und machte einen Satz rückwärts, ging aber sogleich wieder auf ihn los, eine gewaltige, massige Gestalt hinter einer Stiefelspitze. Ravi versuchte, sich um den Stiefel zu krümmen und den Mann aus dem Gleichgewicht zu bringen, doch der riss sich los und kam wieder auf ihn zu. Gleich darauf sprangen andere ihm bei.
    Das war das erste Mal, dass sie ihn schlugen, bis er die Besinnung verlor. Weil Ravi bewusstlos war, konnte er sich nicht daran erinnern, wie sie gefesselt und in einen Wagen gesteckt worden waren, der am Rande der Straße wartete. Er hörte seine Mutter nicht jammern, sah sie nicht im Türrahmen auftauchen, wo sie vom Arm eines Soldaten zurückgehalten wurde. Und Mór erzählte es ihm auch nie. Doch irgendwie wusste er es. Er wusste es so sicher, als hätte sie ihm ihre Augen und ihre Ohren geliehen.
    Zwei Tage, nachdem die Soldaten ihm die Nase gebrochen hatten – zwei Tage unterwegs, an denen sie geschlagen wurden, nachts nicht schliefen und tagsüber benommen dahindämmerten –, wurden die Kinder in der Nähe der Küste mit anderen Gruppen aus anderen Dörfern zusammengepfercht. Viele von ihnen hatten sich in den Küstenstädten versammelt, um die Rückkehr des Frühlings zu feiern. Vielleicht war das der Grund, warum sie in so großer Zahl eingesammelt werden konnten. Wie die Soldaten in den roten Umhängen mit den Eltern der Kinder umgegangen waren, wusste Ravi nicht. Sie konnten sie doch nicht alle geschlagen haben, oder doch? Vielleicht hatten sie deshalb die Kinder so erbarmungslos marschieren lassen. Vielleicht, aber Ravi war sich ziemlich sicher, dass da noch mehr dahintersteckte. Manchmal konnte er den stechenden Geruch von Nebel in der Brise riechen, die von den Städten heranwehte, an denen sie vorbeikamen. Das versetzte ihn in die gleiche melancholische Stimmung, die der Rauch brennender Ruinen ausgelöst hätte. Doch die Städte lagen nicht in Trümmern; zumindest nicht im direkten Sinn, den man sich am leichtesten ausmalen konnte.
    Keines der Kinder verstand, was geschah. Ja, sie kannten alle die Geschichten von den Männern in den roten Umhängen, vom Verschwinden, aber die Geschichten waren nie so gewesen wie das hier. Sie hatten gehört, dass alle paar Jahre ein oder zwei Kinder verschwunden waren. Nicht mehr. Und in den Geschichten waren immer kleine Kinder mitgenommen worden, keine, die so alt waren wie Ravi und Mór. Was auch immer hier jetzt geschah, es überstieg die Albträume bei weitem, die die älteren Jungen den Jüngeren hatten bescheren wollen.
    Sie marschierten den ganzen Morgen und dann den ganzen Nachmittag. Als der Abend dämmerte, kamen sie zwischen Klippen an den Strand herunter und sahen zum ersten Mal die großen Gildenschiffe. Es war schwierig, ihre Größe zu schätzen. Zuerst dachte Ravi, die Schiffe seien nicht besonders groß, dann jedoch wurde ihm klar, dass sie sich ziemlich weit draußen befanden. Sie mussten riesig sein, wie sie da auf einer schimmernden, azurblauen Weite lagen. Die Zwillinge gingen Hand in Hand ziemlich weit vorne in der Marschkolonne. Ravi spürte, wie das hohe, feuchte Gras an seinen Beinen entlangstrich, und er dachte, dass er Glück hatte, so weit vorne in der Reihe zu sein und nicht weiter hinten, wo das Gras heruntergetrampelt sein würde und man es nicht spüren könnte. Dann dachte er, dass er entweder nicht sonderlich nett oder ein Narr war – oder beides. Das ist nicht möglich, dachte er. Nicht möglich. Doch die Welt widersetzte sich seiner Behauptung ohne jedes Zögern, während sich die Reihe weiter vorwärtsbewegte.
    Ravi drückte die Hand seiner Schwester fester und betrachtete die Schiffe.
    In dieser Nacht schliefen sie von den Wächtern bewacht auf einem schmalen, von bröckeligen Klippen gesäumten Sandstreifen. Ein paar von den Kindern hatten Angst vor dem Meer und weinten. Ravi wollte sie anschreien, dass sie aufhören sollten, aber er wusste, dass das unfreundlich gewesen wäre. Er wollte nicht unfreundlich sein. Das würde etwas Schlimmes nur noch schlimmer machen, und zwar für andere, die genauso unschuldig waren wie er. Er war wütend, und er wollte nicht, dass diese Wut verschwand oder durch Angst oder Fügsamkeit ersetzt wurde. Er wollte mit dieser Wut etwas ausrichten.
    »Schwör mir, dass du dich ihnen niemals geschlagen geben wirst«, sagte er. Es waren seit einiger Zeit seine ersten Worte. Dabei sah er seine Schwester nicht an, sondern starrte ins Leere.
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