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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6
Autoren: Rosa Liksom
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Fünfeinhalb Jahre verbrachten wir da zusammen. Die Schule schmeckte uns nicht, also mussten wir arbeiten gehen. Ich wartete auf der Treppe vor dem Laden auf eine Fuhre, und wenn sie kam, nahm ich die Ware von der Ladefläche und warf sie ins Lager. Petja schleppte auf einer Baustelle Bretter hin und her. Wir lebten in einem Kesselraum. Dort gab es ein Fenster, durch das sah man den Gehweg und die Beine der Passanten. Da wohnten wir, aber eines Abends kam Petja nicht von der Arbeit nach Hause. Am nächsten Tag fuhr ich mit dem O-Bus zu seiner Baustelle, um nach ihm zu fragen, und dort erzählten sie mir, er sei unter eine Maschine geraten und gestorben. Von einer Maschine getötet. Ich fragte, was für eine Maschine. Ein altes Väterchen zeigte mir so einen kleinen elenden Bagger. Da steht der Schuldige. Ich nahm den Vorschlaghammer und zertrümmerte das Ding. Seitdem schlage ich mich alleine durch.«
    Die junge Frau warf einen Blick auf den Mann, der sich in seine Gedanken verkrochen hatte, und dachte an Mitka und an eine bestimmte Nacht im August. Sie hatten am Rand des Puschkin-Platzes auf einer Betonbank gesessen, etwas geraucht und auf die Morgendämmerung gewartet, als eine Schar grölender junger Betrunkener ankam und sie bedrängte und schubste. Sie rissen sich los, liefen davon, aber ein fetter Glatzkopf folgte ihnen und drohte damit, dem mit der Brille das Gehirn aus dem Schädel zu prügeln. Sie bekamen es mit der Angst zu tun. Rannten schneller, die menschenleere Straße entlang, aber am Ende der Straße tauchte ein Auto auf, und die junge Frau war sich sicher, dass auch darin Glatzköpfe saßen. Sie hetzten durch Nebenstraßen und kürzten über Innenhöfe ab, bis sie verschwitzt vor ihrer Haustür standen.
    »Nach Südsibirien bin ich zum ersten Mal Anfang der Sechzigerjahre gekommen. Das war die Zeit der Währungsreform. Der Rubel war nichts mehr wert, Essen bekam man auch für Geld nicht, und in den Bierhallen wurde ein Krug für fünfzig Kopeken ausgerufen. Damals saß ich in der Baustellenkantine und kippte mit Boris, Sascha und Hund Mucha Selbstgebrannten. Einmal kam einer von der Baustellenaufsicht hereingeschneit. Dieser Filzstiefel vom Land sagte, geh, Volksgenosse, nach Sochumi, auf die Krim, ins südliche Sibirien, dort werden Plan-Übererfüller gesucht. Er drückte mir einen Zettel in die Hand und war wie vom Erdboden verschluckt. Ich ging zu Wimma, meiner geliebten breitärschigen Hure, sagte danke für deine Möse und auf Wiedersehen, ging schnurstracks zum Bahnhof und ruckelte mit dem Zug durch das weite, offene Sowjetland. Ich landete dann statt in Sochumi in Jalta. Dort wurden alle Arten von Hütten gebaut, und als ich sagte, ich bin eine stachanowsche Fleischmaschine und ein Betonheld, bekam ich sofort Arbeit. Das war der beste Sommer meines Lebens. Ich konzentrierte mich aufs Faulenzen und auf die Huren. Wenn man die fragte, bist du feucht, dann waren sie’s in zwei Minuten. Manchmal waren wir mit den Flittchen im Kino Der Bauarbeiter und sahen uns Abenteuerstreifen an: Drei Männer im Schnee , Im Eis verschollen , und wie hieß der eine gute noch …? Drei Freunde auf offenem Meer . Jedes Mal wenn ich an den Sommer zurückdenke, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Damals fesselte die Vernunft noch nicht das Leben. Aber dann kam die letzte Nutte! Katinka. Die trällerte mit Zuckerstimme, komm, ich wasche dir dein Hemd. Damit endete mein Leben, und vor mir tat sich der holperige, lichtlose Weg des immer tiefer sinkenden Alkoholikers auf.«
    Der östliche Wind schleuderte vereinzelte Schneeflocken über die weiße Steppe, ein blasser Schein schimmerte über einem Gehölz. Der Mann spuckte wütend über die linke Schulter in die Abteilecke.
    »Ich spreche von der Katinka, die mich gestern an den Bahnhof gebracht hat. Das in ihrem Gesicht stammt von mir. Ich kam besoffen heim, und da ging es los. Jedes Mal dasselbe Tohuwabohu, Katinka brach den üblichen Streit vom Zaun. Weil sie nicht aufhörte, wischte ich ihr eine und dann noch eine. Sie müsste einfach den Mund halten, dem müden Wanderer helfen, sich auszuziehen, und ein gutes Nachtessen machen, aber sie lernt es nie. Ich versuche, es ihr zu erklären, und schwärme ihr sogar was vor. Sie hört nicht hin, sondern macht immer weiter, schreit, die Männer hätten diese verdammte Welt nur für sich aufgebaut. Da ballt sich die Wut des unterdrückten Ehemannes, und dann verpasse ich ihr eine, damit sie still ist. Wenn sie beim
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