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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6
Autoren: Rosa Liksom
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Matratze und zog eine Tafel Tschaikowski-Schokolade heraus. Er öffnete sie mit der Messerspitze und bot der jungen Frau davon an. Er selbst nahm kein einziges Stück, sondern legte die Tafel mitten auf den Tisch. Sie war dunkel und schmeckte nach Naphtalin. Die junge Frau dachte an Irina: wie sie oft abends auf ihrem Lieblingsstuhl unter der Lampe saß und in einem Buch las, wie das gelbliche Licht der Lampe auf die Seiten fiel, wie Irinas Hände das Buch hielten, wie ihr Gesicht und wie …
    »Früher wussten die Frauen, still zu sein, heute geht bei den modernen Weibern die ganze Zeit das Mundwerk. Ich hatte mal eine Hure, die quasselte und rauchte, während ich sie bumste. Am liebsten hätte ich sie erwürgt.«
    In der Ferne schimmerte ein Birkenwald, ausgelaugt von schwerer Kälte und scharfen Winden. Die nackten Bäume zeichneten Schatten in den Schnee. Der Zug raste voran, der Schnee stob auf und flimmerte rein und hell. Mal füllte eisiger weißer Wald das Fenster, mal leichter blauer, wolkenloser Himmel. Die junge Frau lauschte auf den Klang und den Rhythmus der Worte des Mannes. Bald verflog sein Eifer, und an dessen Stelle trat ein Hauch von tiefem Kummer.
    Der Mann überlegte lange. Zwischendurch bewegten sich die feuchten Lippen schnell, dann wieder sehr langsam. Seine aufrechte Haltung war dahin, er saß mit eingesunkenen Schultern da.
    »Katinka … meine Katinka.«
    Es wurde still im Abteil. Der Mann legte die Stirn an die kalte Fensterscheibe. Die junge Frau erhob sich und trat auf den Gang.
    Dort standen einige Reisende. Ein entgegenkommender Güterzug brauste vorbei, brachte den Waggon zum Schwanken, weiter hinten huschte als türkiser Fleck ein kleines Gebäude bei einem Haltepunkt vorüber. Die Nacht hatte Schmutzspritzer an die Fenster im Gang geschleudert, zwischen denen mattes Licht eindrang. Die Birken wurden spärlicher, der Zug drosselte das Tempo, auf dem Nebengleis lag verrosteter Metallschrott herum, und wenig später rauschte der Zug schlagartig in den Bahnhof von Kirow. Ein Schild neben der Strecke teilte mit, dass es bis Moskau gut tausend Kilometer waren.
    Die junge Frau stand in der offenen Wagentür. Ein paar kleine Schneeflocken schwebten in der stillen, trockenen Kälte. Auf dem Bahnsteig gegenüber zuckte unruhig ein schmächtiger Regionalzug, wie von einem Anfall geschüttelt. Die Menschen drängten aus ihm heraus und schnappten panisch frische Luft. Die Bahnhofsglocke schlug einmal, dann ein zweites Mal. Die junge Frau konnte gerade noch flüchtig das schwarze Plastikschild an der Mütze des vorbeispazierenden Zugführers sehen, als Arisa kam, um die Tür zu schließen.
    »Was stehen Sie da? Wollen Sie in Kirow bleiben? Da kriegen Sie die Peitsche. Weil Sie ja keinen Volkspass und auch keinen Ihnen zugewiesenen Wohnraum haben. Dumme Ausländerin, versteht nichts und steckt hier die Nase raus! Und in meine Verantwortung haben sie das unglückliche Ding gegeben. Wissen Sie wenigstens, wer Kirow war?«
    Im langsam fahrenden Zug ging die junge Frau schwankend den Gang entlang und schaute auf die schaukelnde Stadt vor dem Fenster. Vor einem Verwaltungsgebäude im Barockstil raufte ein Rudel streunender Hunde, ein junger Mann schlug mit einem abgebrochenen Besenstiel auf sie ein. Die junge Frau war auf dem Weg zum Abteil der Schaffnerin, um Tee zu kaufen. Wie die Allmächtige saß Arisa auf dem Bett und betrachtete die junge Frau mitleidig. Im kleinen Transistorradio sang Georg Ots etwas auf Russisch.
    »Alle Menschen müssen ein Leben auf die gleiche Art haben«, sagte Arisa. »Entweder gleich gut oder gleich schlecht.«
    Sie reichte der jungen Frau zwei Gläser mit heißem Tee und drei Packungen Kekse statt zwei.
    »Der Mensch ist zu allem fähig, wenn man ihn zwingt. Und jetzt ab ins Abteil!«
    Der Mann saß auf seinem Bett. Er hatte sich ein kariertes Hemd über das weiße gezogen. Es stand offen, unter den Falten des weißen Hemdes schimmerte der schweißnasse, muskulöse Bauch hervor. Der Mann schnappte sich eine kleine Apfelsine vom Tisch und riss auf hässliche Art die Schale herunter. Nachdem er die Frucht gegessen hatte, zog er unter dem Bett eine zerfledderte Zeitung hervor, hielt sie sich vor die Nase und stellte gereizt fest: »In jungen Jahren ist der Mensch ruhelos. Kein bisschen Geduld. Nichts als Rennerei. Alles läuft wie von selbst, die Zeit ist bloß Zeit.«
    Er runzelte die Stirn und seufzte.
    »Du musst nur hierhergucken. Dann siehst du einen alten Kerl mit
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