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Absolution - Roman

Absolution - Roman

Titel: Absolution - Roman
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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schützten oder vor jemandem, oder ob sie mich schützten?
    Ich habe schon vorher versucht, dich zu begreifen, Laura, doch jeder Versuch, den ich mache, scheitert. Ich schreibe es auf, kann es aber nicht sehen. Du kannst es die Blindheit einer Mutter nennen. Ich versuche es noch einmal, stelle es mir wieder anders vor, doch es wirkt immer noch unvollständig.
    Diesen neuen Versuch, die letzten Tage vor deinem Verschwinden zu rekonstruieren, unternehme ich nur um meinetwillen, weil es nie einen amtlichen Bericht gegeben hat. Ich beginne dieses Tagebuch noch einmal, ein neuer letzter Beginn, während ich gleichzeitig etwas in Bewegung gesetzt habe, was in der Beschreibung meines eigenen Lebens münden wird. Der Biograf kommt jetzt und dringt in mein Heim und meine Gedanken ein; ich kann ihm nicht wie anderen, die auf ihre Art nicht weniger unheilvoll waren, den Zutritt verwehren.
    Ich träume davon, dass du das eines Tages liest und mir sagen kannst, wo ich in die Irre gegangen bin, damit wir die Ironie, wie sich das Vorgestellte und das Wirkliche aneinander reiben, genießen können. Während deine eigene Version fehlt, weiß ich, dass es eine andere, konkurrierende, geben muss, die ich mich vielleicht noch abzurufen entschließe. Ich spreche natürlich von dem Jungen. Ich weiß, dass seine Geschichte nicht die meine ist. Mein Wissen über deine letzten Tage ist lückenhaft, doch bei der Geschichte des Jungen habe ich keine andere Quelle, auf die ich mich stützen kann, als deinen einseitigen Bericht. Der Junge wird vielleicht seine eigene Geschichte so erzählen, wie ich es nicht kann.
    An manchen Tagen denke ich, ich hätte einreichen sollen, was immer es war, das man damals einzureichen aufgerufen war – eine Aussage, eine »Opferaussage« oder »Aussage zu einer Menschenrechtsverletzung«, was immer die Wahrheitsfindungskommission verlangte –, doch ich konnte mich nicht als »Opfer« verstehen, so wie andere Opfer waren. Du warst ein Opfer, doch ich wusste, dass du kein solches »Opfer« warst. Und ich mag dieses Wort sowieso nicht, mit seinem ganzen religiösen Ballast. Wir waren keine Opferlämmer, und was uns zustieß, hatte nichts mit dem Übernatürlichen zu tun. Was hätte ich denn mit einer Aussage erreicht? Ich hätte nur der Hoffnung Raum gegeben, dass irgendein zwielichtiger und berechenbarer Typ aus den alten Regierungskreisen vielleicht gestehen würde, was dir zugestoßen ist. Die geringe finanzielle Entschädigung, die mir dann von der Regierung von Amts wegen zugesprochen worden wäre, hatte und habe ich immer noch nicht nötig. Sie sollen das Geld für die ausgeben, die wirklich Not leiden und noch an vielem mehr. Ich hatte es nicht nötig, meinen oder deinen Namen auf jener Liste der »Offiziellen Opfer« zu sehen. Dein Bruder drängte nicht darauf – dein Vater auch nicht –, wozu hätte es also gut sein sollen? Was ist denn überhaupt gut für uns? Ich muss etwas Gutes entdecken. Ich muss mir wenigstens vorstellen, was geschehen sein könnte, mir einen Weg durch das wenige, was ich weiß, zu bahnen beginnen.
    Ich stelle dich also wieder auf die Kreuzung, wo die Reise begonnen haben muss, wo über ein Dutzend anderer Leute in den diesigen Zufluchtsinseln aus orangefarbenem Flackerlicht um dich herumstanden und bei deinem Auftauchen beiseiterückten. Vielleicht hast du der Frau, die dir am nächsten war, zugenickt und die Frau lächelte kurz, wandte sich dann aber ab, aus Verstörung oder Angst vor dem, was du sein könntest – vor der Bedrohung, die du bedeuten könntest, einfach weil du mit ihnen zusammen da warst, allein im Dunkeln. Eine Weiße wie du wartete für gewöhnlich nicht an einer Kreuzung auf der alten Forststraße, nicht mitten in der Nacht, im Hochsommer, zu Fuß unterwegs, mit gummibesohlten Schuhen auf dem schwitzenden Asphalt, zwei klebrige chemische Substanzen, die miteinander verschmelzen, wenn man lange genug stillsteht. Selbst die Kinder waren instinktiv vorsichtig. Frauen wie du waren nach Einbruch der Dunkelheit nicht zu Fuß unterwegs, nicht zur damaligen Zeit, nicht einmal heute – besonders heute nicht. Wie verrückt musst du gewirkt haben, als du in deiner Touristenverkleidung den Berg heruntergeschlittert kamst. (Hätte ich versuchen sollen, dich aufzuhalten? Wenn du gesagt hättest: Mutter, deinetwegen tue ich es nicht , hätte ich dann gesagt: Tue es nicht, Schatz , oder hätte ich gesagt: Nein, du musst es tun, um unser aller willen? Kann ich im gleichen
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