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About Ruby

About Ruby

Titel: About Ruby
Autoren: S Dessen
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gespielt, gehörte fest dazu, doch das war vorbei, schlicht und einfach vorbei. Jedenfalls glaubte ich das. Bis an einem ganz gewöhnlichen Dienstag die Honeycutts bei uns aufkreuzten. Und sich mit einem Schlag alles veränderte.
    Den Honeycutts gehörte das kleine gelbe Bauernhaus, in dem meine Mutter und ich zu dem Zeitpunkt seit etwa einem Jahr lebten. Davor hatten wir in einem winzigen Apartment in den
Lakeview Chalets
direkt hinter dem Einkaufszentrum gewohnt, einer ziemlich runtergekommenen Gegend, wo wir uns das einzige Schlafzimmer teilten. Die gesamte Wohnung hatte nur ein Fenster, von dem aus man einen Wahnsinnspanoramablick auf den Hintereingang eines Fast-Food-Restaurants hatte; dort saß eigentlich immer jemand vom Personal mit Küchenhaube oder Haarnetz auf einem umgedrehten Wasserkasten und rauchte. An einer Seite des Wohnkomplexes war ein Bach, der nicht weiter auffiel, außer es regnete. Dann stieg er sofort über seine nicht existenten Ufer und überschwemmte alles in Reichweite,was mindestens zwei- oder dreimal im Jahr passierte. Vom Wasser selbst bekamen wir zum Glück nichts ab, weil wir im obersten Stockwerk wohnten. Doch der Geruch nach Schimmel und Stockflecken aus den unteren Etagen durchdrang alles; außerdem wollte man gar nicht so genau wissen, was sich im Lauf der Zeit an Feuchtigkeit und Moder in den Mauern angesammelt hatte. Kein Wunder, dass ich geschlagene zwei Jahre lang permanent erkältet war. Und als wir schließlich in das gelbe Haus zogen, fiel mir als Erstes auf: Hier kann ich atmen . . .
    Doch das war nicht der einzige Unterschied. Zum Beispiel war es eben ein
Haus
, kein Apartment in irgendeinem Wohnblock oder eine Absteige über jemandes Garage. Ich war daran gewöhnt, Nachbargeräusche durch Wände zu hören, doch das gelbe Haus stand frei, mitten auf einer riesigen Wiese, flankiert von zwei Eichen. Links davon befand sich zwar ein weiteres Haus, von dem man jedoch nur das Dach hinter den Baumwipfeln sah. Im Prinzip waren wir allein. Und genau das gefiel uns daran.
    Meine Mutter war kein Menschen-Mensch. Klar, in bestimmten Situationen   – wenn man ihr ihre Fassade abkaufte   – konnte sie geradezu reizend sein. Und wenn man sie im Umkreis eines Kerls absetzte (zweihundert Meter, höchstens), der sie wie Dreck behandelte, sobald sie sich näherte, würde sie ihn zielsicher aufspüren, ihm schöne Augen machen und wäre nicht mehr zu bremsen. Sofern man nicht wie ein Luchs aufpasste. Ich weiß es, ich hab’s versucht. Vergeblich. Aber mit einem Großteil ihrer Mitmenschen (Kassierer, Vertreter der Schulverwaltung, Chefs, Exfreunde) kommunizierte sie nur, sofern unbedingt notwendig, und das auch bloß höchst widerwillig.
    Sie konnte von Glück sagen, dass sie mich hatte. Ich warihr Puffer gewesen, seit ich denken konnte. Ihre Vermittlerin, meiner Mutter Botschafterin für den Rest der Welt. Wenn sie Cola light brauchte, aber einen zu gewaltigen Kater hatte, um selbst in den Laden zu gehen, oder wenn sie merkte, dass ein erboster Nachbar auf sie zustürmte, um sich darüber zu beschweren, was für einen Krach sie letzte Nacht gemacht hatte,
schon wieder
, oder wenn Zeugen Jehovas vor unserer Wohnungstür auftauchten   – es lief immer gleich ab. »Ruby«, sagte sie dann mit ihrer müden Stimme, wobei sie entweder ihr Glas oder die flache Hand gegen die Stirn presste, »redest du bitte mit den Leuten?«
    Und ich redete mit den Leuten. Schwatzte mit der Kassiererin, während sie mein Wechselgeld zusammensuchte; nickte höflich, wenn der Nachbar wieder einmal damit drohte, sich bei der Hausverwaltung zu beschweren; ignorierte die Pamphlete, die mir eifrig entgegengestreckt wurden, und schlug den Zeugen Jehovas die Tür vor der Nase zu. Ich stand in ihrer Verteidigungslinie an vorderster Front, hatte stets eine Erklärung, Entschuldigung oder kreative Ausrede parat. »Sie ist gerade bei der Bank«, behauptete ich beispielsweise dem Vermieter gegenüber, obwohl sie schnarchend auf dem Sofa im Wohnzimmer lag   – und die Tür sogar nur angelehnt war. »Sie steht draußen und unterhält sich mit einem Lieferanten«, erklärte ich ihrem Chef, damit er mir ihre Tasche nach Feierabend aushändigte; dabei trieb sie sich im Verladebereich der Lagerhalle herum, sog gierig den Rauch der Zigarette ein, nach der sie sich schon den ganzen Tag gesehnt hatte, und wartete darauf, dass ihre Hände zu zittern aufhörten. Und schließlich die größte Lüge von allen: »Natürlich wohnt
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