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Abgehauen

Abgehauen

Titel: Abgehauen
Autoren: Manfred Krug
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Augen zu und sang wie auf einer Probe: allein für mich und die Musiker. Eine grausige Erinnerung. Solchen Schrecken kann der Mann, der da vor mir sitzt, gar nicht begreifen. Der tut so, als wisse er nicht, welche gewaltigen Kreise die Steinchen ziehen, die er ins Wasser wirft. Der sollte eine einzige Ansprache vor verabredeten Feinden halten, die sich abwenden und keinen einzigen Klatscher Applaus hören lassen. Lamberz bleibt bei den Einzelheiten, bei der Frage, ob es Repressalien gebe oder nicht. Da hat er wenig Material gefunden, er türmt die kleinen Häufchen auf, ich die großen Haufen. Endlich erlaubt er, daß wir von dem ermüdenden Thema wegkommen.
    Er spricht über Ehrungen, mit denen ich bedacht worden sei. Ich sage nicht, daß mir Vertrauen oft lieber gewesen wäre. Er spricht über politische Kontinuität und soziale Sicherheit. Ich sage nicht, daß Angst und der Verlust von Selbstsicherheit und das Schneidabkaufen nicht die Güter sein können, die der Mensch dafür hergeben muß. Er spricht über das vorbildliche Schulwesen. Ich sage nicht, daß meine Kinder unter Heuchelei und Gleichschaltung leiden, daß sie Schaden nehmen und daß wir zu Hause viel Arbeit damit haben, sie davon wieder zu heilen. Er spricht von unserem vorbildlichen Gesundheitswesen. Ich sage nicht, daß er dabei an das Regierungskrankenhaus denkt und daß ich vor zwei Wochen einen halben Freitag vergeblich herumgefahren bin, um meiner Tochter das von einer Scherbe zerschnittene Knie zunähen zu lassen. Es ist nie zugenäht worden.
    Er spricht von der Freiheit im Sozialismus. Ich sage nicht, daß wir alle in einem Riesenknast sitzen. Sie glauben sich selbst und an sich selbst. Sie glauben an ihre eigenen Gerüchte. Sie machen sich ihre Feinde selbst und glauben an jede neue Feindschaft. Ich sage: »Wie könnt ihr sagen, daß ich ein Feind bin?« Das habe in der Parteiführung niemand gesagt. Ich sage: »Das nützt mir nichts, wenn gleichzeitig hunderttausend Genossen im ganzen Land mich als Feind bezeichnen. Von wem haben sie das gehört?«
    »Du siehst«, sagt Lamberz, »die Vielfalt der Meinungen, die immer bestritten wird, gibt es bei uns: die einen halten dich für einen Feind, die anderen nicht.« »Und du?«
    Müde sagt er: »Ich gehöre zu den letzteren.« Und nach einer Weile: »Haben andere Leute gesagt, daß sie dir folgen werden?«
    Ich lüge: »Nein. Niemand.«
    Lamberz: »Stimmt es, daß du einen Tonbandmitschnitt von dem Gespräch am 20. November in deinem Haus angefertigt haben sollst?«
    Ich kriege einen fürchterlichen Schrecken. Wie er auf diese Frage kommt, kann ich mir nicht erklären. Ich sage: »Um Gottes willen! Nein.«
    Lamberz erwähnt meine Kontakte zu westlichen Diplomaten und deutet die Vermutung an, meine Absichten könnten in diesen Kreisen bekannt sein. Ich widerspreche nicht.
    Von Kuba und Mozambique redet er nicht wieder. Lamberz macht keinen Vorschlag mehr, hat kein Konzept, keinen Ausweg als den, daß ich bleiben soll. Ich habe wirklich den Eindruck, daß er, Lamberz, mich »behalten« will. Meine weiche Seele findet diesen Mann plötzlich wieder sympathisch. Das Beste an ihm ist sein Lächeln. Und sein Erröten. Und das ist wohl doch nicht Wut, die ihm das Blut in den Kopf treibt, vielleicht ist es wirklich bloß das Gegenteil von Abgefeimtheit, er muß, trotz allem, ein Herz haben. Ich bin wieder an einem Punkt, wo ich mir in meiner Unerbittlichkeit selbst gemein vorkomme, wo es mir weh tut, daß der Gegner nicht gewinnt.
    Ich zwinge mich daran zu denken, welches Leben mir bevorstehen würde, wenn ich jetzt einlenkte, wie oft ich mir später an die Stirn schlagen und mir vorhalten würde; warum bist du dieses einzige Mal in deinem Leben nicht hart geblieben! Aber ich sehe mich auch im Westen im Elend. Irgendwo in einem Loch, versoffen und verkommen, sehe mich mit dem Kopf an der Wand und höre mich sagen: Warum hast du damals nicht auf diesen Mann gehört! Sie haben mich fertiggemacht, mich wie ein Puzzle durcheinandergerührt. Ich muß irgendwo neu anfangen und mich wieder zusammensetzen. Ich muß frei sein. Ich sage: »Es ist alles zu spät.« Lamberz: »Ist das dein letztes Wort?« »Mein letztes.«
    Sehr leise sagt er: »Die reaktionäre Presse wird sich auf dich stürzen. Die Suppe, die du dir eingebrockt hast, werden sie lecker abschmecken. Das größte aller gefundenen Fressen. Da wird aufgetischt, da wird getafelt nach Herzenslust.« Er atmet tief ein.
    »Gut«, sagt er. »Es tut mir
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