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Abgehauen

Abgehauen

Titel: Abgehauen
Autoren: Manfred Krug
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Adamecks Wikingerdevisen wären für diesen Film besser angelegt gewesen, aber warum soll er das Zeug teuer kaufen, wenn der Westen es umsonst sendet?
     
    15. Mai 1977, Sonntag
    Minchen Müller-Stahl, sein Bruder Hagen aus dem Westen, Jurek und ich sitzen und trinken Tee. Minchen steht gewohnheitsmäßig auf, geht in den Wintergarten, wo die Schreibmaschine steht. Sie ist leer. Auf seinen fragenden Blick sage ich: »Nix mehr. Ich hab aufgehört zu schreiben.« In Wahrheit möchte ich ihm meine letzten Bemerkungen über das Hinschwinden unserer Freundschaft ersparen. Der Zorn, der unsere früheren Gespräche gewürzt und gestrafft hatte, scheint einer gewissen Fahrigkeit zu weichen. Müller-Stahl kriegt keinen Satz zu Ende, wirkt irgendwie somnambul, wie einer, der ins Zimmer kommt und vergessen hat, was er holen wollte. Durch beharrliches Nachfragen kommen zeitweise Konturen in seine Rede. Es zeichnet sich der Vorwurf ab, ich könne nur denen ein Freund sein, die aus gleichen Erfahrungen auch gleiche Konsequenzen zu ziehen bereit sind. Jurek pirscht sich an den Vorschlag heran, Müller-Stahl aus unserem Trio der Beleidigten zu entlassen. Bruder Hagen bestärkt nach Kräften. Man könne einem solchen Entschluß nicht bloß deshalb die Tat folgen lassen, weil man sie angekündigt habe oder weil man sich irgendwem verpflichtet fühle. Drüben seien die Bandagen hart und die Zukunft ungewiß. Ich sehe Jurek einsichtig nicken und nicke mit. Am Ende frage ich Hagen Müller-Stahl, ob und unter welchen Umständen er in die DDR kommen würde. Das sei, sagt er, eine ganz andere Frage.
    Wohl wahr.
     
    16. Mai 1977, Montag
    Um zwölf Uhr hebe ich die Telefonblockade auf. Jurek ruft an, Frank Beyer habe es fertiggebracht, daß Mittwoch doch noch eine interne Vorführung des Films »Das Versteck« stattfindet, in kleinem Kreis, ob ich nicht mitkommen wolle. Ich sage zu.
    Günter Grass ruft an, er will uns morgen besuchen. Die Konzertdirektion Dresden ruft an, sie hätten zwei Konzerte für mich. Ich frage: »Wie kommt das denn auf ein mal?« Der Mann sagt: »Wir haben gehört, daß Sie jetzt wieder konzertieren.«
    Klaus Lenz ruft an, er sei zum Genossen Ragwitz ins Kulturministerium eingeladen worden, ob er da überhaupt hingehen solle. Was denn sonst, sage ich. Die Woche ist rum. Ich warte auf den Anruf von Lamberz. Alle Koffer, die bis heute im großen Zimmer gestanden und es verschandelt haben, schleppe ich in den Keller, um den morgigen Besuch nicht zu erschrecken.
     
    17. Mai 1977, Dienstag
    Günter Grass und Hans Joachim Schädlich kommen am Nachmittag. Sie sehen sich Haus und Garten an, deren Beschreibung an jenem Leseabend sie neugierig gemacht hatte. Schädlich hat eine warme Stimme, leise gedehnte Töne, nichts Sicheres. Er fragt sich, wie es mit ihm weitergehen soll. Grass scheint entschlossen, ihn zu beschützen. Er ist hellwach, hat brauchbare Ratschläge. Schädlich stand auf der Liste, für ihn hat es jedoch keine Gespräche mit »hochgestellten Persönlichkeiten« gegeben. Er gehört zu den ärmeren Leuten, so daß einige der bessergestellten Abweichler eine Kollekte veranstalteten, um ihn und seine Familie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Schädlich lehnte ab. Solange er seinen »Shiguli« noch fahre, nage er nicht am Hungertuch. Grass ist von Schädlichs Talent beeindruckt, er hilft ihm, fördert ihn, hat drüben eine Ausgabe seiner Erzählungen besorgt und den Schutzumschlag gezeichnet.
    Wir essen Engels besten Kuchen. Ich bin nicht sehr unterhaltsam vor den beiden sensiblen Männern. Mein Gefühl, ihnen kein ebenbürtiger Gesprächspartner zu sein, überspiele ich in der Rolle des beflissenen Gastgebers und durch Fragen, die auf leichte Themen lenken sollen. Grass erzählt von seinem alten Dorfschulzenhaus an der Stör, das er seit Jahren sorgfältig restauriert. Den beiden Ostlern gelingt es nicht, den überlegenen Plauderton des Westlers mitzuhalten, sie sind abgelenkt, spielen zuhören. Hinter ihren aufmerksamen Gesichtern verbergen sich abschweifende, neblige Gedanken. Was werden sie mit uns machen? Konrad Naumann soll gesagt haben: »Im Sommer räumen wir auf.« Das wird eine schöne Ordnung werden, wenn die Schlampe aufräumt. Die schnellen dunklen Augen von Grass scheinen mir so etwas zuzuzwinkern wie: Halt die Ohren steif. Er ist einer von wenigen Westmännern, zu denen ich vom ersten Augenblick an Zutrauen habe. Als er das Gartentor aufklinkt und auf die Straße geht in seiner schäbigen Hose aus
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