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Abgehauen

Abgehauen

Titel: Abgehauen
Autoren: Manfred Krug
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Müller-Stahl wieder da, der ebenfalls Lesestunde hält. Je mehr er liest, desto schweigsamer wird er. Ich habe das Gefühl, daß er mir seine Gedanken nicht mehr verraten will aus Furcht, ich könnte sie aufschreiben. Er spricht von einer Krise in seiner Ehe. »Meine Frau lebt in einer anderen Sphäre«, sagt er, »sie macht sich einen Plan, wenn sie ein Taschentuch bügeln will. Wenn sie am Freitag den Wagen fahren will, prüft sie am Montag den Reifendruck.«
    Nach Lektüre des Lamberz-Gesprächs weiß Müller-Stahl, was auf ihn zukommen würde. Jetzt geht es nicht mehr um den eigenen schweren Entschluß, sich loszureißen. Jetzt besteht die Gefahr, daß wir mit Gewalt festgehalten und entweder umerzogen oder zermürbt werden sollen. Der Berliner Bezirkssekretär der SED, der Suffkopp Konrad Naumann, hat gesagt, die Leute auf der Liste teilten sich in Irregeleitete und Feinde. Nun stellt sich für Müller-Stahl die Frage, wie lange die Partei geduldig und weise genug sein wird, ihn zu den Irregeleiteten zu rechnen. Bei mir ist die Sache klar, mich haben sie von Anfang an unter die Feinde gerechnet.
     
    12. Mai 1977, Donnerstag
    Unsere Autos sind nicht mehr versichert. Wir hätten bis zum 30. April die Marken auf der Post kaufen und einkleben müssen. Aber für den 5. Mai erwarteten wir die Ausreise, und das Geld wird knapp. 3000 Mark liegen noch für die Spedition bereit.
    Ottilie hat einen Auftrag für die Zeitschrift DEINE GESUNDHEIT angenommen. Sie darf über die Rekultivierung erschöpfter Braunkohlereviere im Bezirk Cottbus schreiben, wo man die Tagebaue in Seen verwandeln und Wälder pflanzen will. Es macht mich unruhig, daß Ottilie mit dem nichtVersicherten »Trabant« nach Senftenberg fährt. Was waren wir früher für ordentliche Leute.
     
    13. Mai 1977, Freitag
    Heute liegen drei Telegramme mit Arbeitsangeboten auf dem Tisch. Eins von der Konzert- und Gastspieldirektion Leipzig:
    »anbieten konzert 30. mai oder 27. juni kongresshalle leipzig«;
    eins von der Konzert- und Gastspieldirektion Karl-Marx-Stadt:
    »anbiete 3 konzerte mit guenther fischer quintett vom 27.5. bis 29. 5.1977 …«; und eins vom VEB Deutsche Schallplatten: » …bitte um gespraech ueber weitere aufnahmeprojekte mit ihnen … grusz schaefer direkter fuer kuenstlerische Produktion.«
    Derselbe Schäfer hatte mir im Februar geschrieben, daß »Die großen Erfolge« nicht herauskommen können und daß mein Vertrag, der mir eine Umsatzbeteiligung an meinen Platten zusicherte, nicht länger statthaft sei, und daß ich solche Klauseln künftig beim Kulturminister beantragen und genehmigen lassen muß. Ich wäre genötigt gewesen, einen jahrelang gültigen Vertrag von meinem Verleumder bewilligen zu lassen. Damals habe ich auf Schäfers Brief nicht geantwortet, aber diesmal auf sein Telegramm: »Lieber Herr Schäfer, Ihr plötzliches Angebot kommt zu spät. Nach sechsmonatiger Arbeitslosigkeit und vielen deprimierenden Erfahrungen, zu denen auch Ihr Brief vom 15. 2. gehört, habe ich einen Ausreiseantrag gestellt.«
    Ein Wink aus dem Politbüro hat genügt, und alle diese Kreaturen sind nicht mehr ihrer Meinung. Wenn es damals keinen »Initiativplan« gegen Krug gegeben hat, dann ist heute auch für ihn keiner nötig. Wirklich, wer seinen Stolz finden und ihn vielleicht sogar trainieren will, der sollte eine Weile in der DDR leben. Auch die Konzerte habe ich abgesagt.
    Wie stellen die sich das vor? Woher nehme ich die Unverfrorenheit, wie früher mit dem Publikum zu plaudern? Da steht einer auf der Bühne, der wohl weiß, warum er dort stehen darf. Weil er weich geworden ist. Die Stasilackel sitzen unten, spitzen bei jedem Wort die Ohren und schreiben mit. Wo ich gerade auf meine Ansagen immer so stolz war. Wo doch die Hälfte der Leute wegen meiner Sprüche kam. Wie lange sollte das gutgehen?
    Mittags besuche ich Schlesinger in der Leipziger Straße. Auch der Schriftsteller Dieter Schubert ist da. Beide waren damals am 18. November in meinem Haus dabei, als die Mutter des Oktoberklubs, Gisela Steineckert, auf meinen Anruf hin dazukam. Hand in Hand mit ihrem Mann, einem Rundfunkchef. Uns steht die Szene wieder vor Augen, wie die Steineckert irgendwie gluckenmäßig ihr Hinterteil plazierte, als wollte sie ihre Eier nicht zerdrücken. Wie sie uns versicherte, sie stehe voll auf unserer Seite, deshalb habe sie eben heute vor dem Bezirksverband das Ansinnen, eine Gegenresolution zu formulieren, strikt abgewiesen. Wir sollten nur verstehen,
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